Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)
nicht die richtige Therapie für ihn gefunden. Das braucht eben Zeit.“
Wieder schwieg sie. Dann schlug sie zu: „Ja, Bob, Chris nimmt sich so viel Zeit, bis er so viel angerichtet hat, dass er eine ganz klare Therapie bekommt.“
Ich war irritiert und fragte sie, wie sie das meine.
„Irgendwann“, sagte sie, „wird man bei ihm zu starken Medikamenten greifen müssen. Und anschließend wird er in einen geschlossenen Raum kommen. Dann wird sich die Frage stellen, welche Therapie Sie dafür bekommen.“
Jetzt wollte ich nicht mehr mit ihr reden. Jetzt verlor sie gerade jede Attraktivität vor mir.
Und ich fragte sie: „Was wollen Sie von mir?“
„Die Aufzeichnungen“, sagte sie, „und die Wahrheit.“
Ich sah zu dem Buch hinüber, das auf meinem Tisch lag. „Wer garantiert mir, dass diese Aufzeichnungen nicht verschwinden und Chris seine Verteidigung dadurch verliert?“
„Ich“, sagte sie, „werde die Seiten nur herauskopieren und Ihnen das Buch zurückgeben.“
Damit hatte ich einigermaßen das Gefühl, dass sie auf meiner Seite stehen würde. Doch sie schickte noch eine Bemerkung durch die Leitung, die ich die ganze Nacht nicht vergaß: „Chris weiß, dass Sie sein bester Anwalt sind.“
Wollte sie Spielzeug anstatt Anwalt sagen?
Am nächsten Morgen regnete es nicht nur Wassertropfen vom Himmel, sondern auch eine Menge Probleme.
Gegen halb acht versuchte ich Samuel, den Kiosk-Besitzer des Camps, zu erreichen. Er war nicht da. Samuel hatte zwei Wochen Urlaub. Man wollte mir auch keine Privatnummer geben. Auch das noch.
Ich fragte, ob noch eine andere Person den Vorfall gesehen hätte, den ich befragen könnte. Man sagte mir, es wäre alles bei der Polizei gesagt worden. Man bat mich, den Vorfall nicht allzu sehr an die große Glocke zu hängen.
Ich rief bei der zuständigen Polizeiwache an. Dort fragte man mich, wer ich sei, dass ich mich dafür interessiere. Auch das Gespräch brachte mich nicht weiter.
Mir blieb nur noch der Feind selbst: Dr. Pilburg. Würde er mit mir über den Vorfall reden? Würde er ohne weiteres sich selbst damit belasten?
Ich dachte darüber nach, wer noch alles mit Chris im Camp war, welche Jungen und Pfleger. Vielleicht sollte ich zunächst bei denen nachfragen.
Dr. Brisco hatte mich schon in seinem Büro erwartet, als ich vorsichtig an seine offene Tür klopfte.
„Ah, Bob, kommen Sie rein.“
Ich trat ein, mit einem Anstandslächeln auf den Lippen und einem flauen Gefühl im Magen.
„Setzen Sie sich.“ Brisco wies mir einen Stuhl vor seinem Schreibtisch zu.
„Sir“, sagte ich und kam seiner Aufforderung höflich nach. Obwohl ich keine Sanktionen zu erwarten hatte, fühlte ich mich in Kriegsstimmung. Gegenstand des Gefechts war mal wieder Chris. Klar. Ich erkundigte mich vorsichtig nach dem gestrigen Vorfall. Dr. Brisco wedelte mit seinen Händen herum und sagte: „Bob, damit haben Sie nichts zu tun. Das ist eine Sache zwischen Dr. Pilburg und mir. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie es dabei beließen, damit es nicht komplizierter wird, als es schon ist.“
Schade, ich hätte so gerne gewusst, ob es diese Pillen wirklich gegeben hat. Sollte ich einfach fragen? Sollte ich mich doch einmischen und womöglich eine Abmahnung riskieren, falls Dr. Pilburg und Dr. Brisco bereits einen anderen Plan hatten? Nein, sollte ich nicht. Also fragte ich freundlich: „Wie geht’s Dr. Pilburg?“
Brisco räusperte sich. „Nicht so gut. Er bleibt diese Woche zu Hause. Muss Abstand zu der Sache bekommen.“
Dann stimmte die Sache mit den Pillen also doch, dachte ich.
„Ja“, sagte ich. „Wird ihm guttun.“
„Haben Sie das Buch?“, fragte Brisco und sah mich mit berechnendem Blick an.
„Welches Buch?“, konterte ich zunächst unwissend.
„Na, wo Chris seine Erlebnisse von diesem Ausflug eingetragen hat.“
„Oh“, sagte ich, „das liegt irgendwo bei mir zu Hause.“
Bisher fanden alle meine Methoden, die ich bei Chris anwendete, ziemlich dumm. Jetzt fragten alle danach. Viel zu auffällig und interessiert, fand ich.
„Ich möchte das Buch gerne lesen“, sagte Dr. Brisco.
Sollte ich sagen, dass es leer war? Dann wäre Pilburg seine Belastung los und Chris würde eine Menge Ärger erspart bleiben. Doch ehe ich lügen konnte, nahm mir Brisco den Wind aus den Segeln. „Chris sagt, er hätte alles aufgeschrieben.“
Ich sagte: „Ich hab noch nicht reingeschaut.“
„Würden Sie es bitte holen?“
„Wann?“ Ich sah ihn erstaunt an. „Jetzt?“
„Jetzt“, sagte er
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