Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)
Zündstoff.
Pilburg kam auf mich zu und sagte: „Herzlichen Glückwunsch. Jetzt stecken wir alle ganz tief in der Scheiße.“
Ich sah meinen Kollegen an. Wusste er von den Pillen, die Chris ihm und dem Personal gegeben hatte? Und wieso würden wir alle tief in der Scheiße stecken? Es war, als sprach plötzlich Chris aus mir: „Wieso wir alle? Die Gruppe war doch Ihrer Aufsicht unterstellt. Wo waren Sie, als Chris das getan hat?“
Dr. Brisco trat zwischen uns. Er ahnte, dass wir uns unter Umständen an die Wäsche wollten. Ich nahm das Buch und drückte es fest an meine Brust. Wie ein Schutzschild.
„Lasst uns Schluss machen“, riet Dr. Brisco und trieb uns alle auseinander, um nach Hause zu gehen.
„Sie will ich morgen in meinem Büro sehen, Bob“, rief er mir zu, als ich mit Jenny über den Parkplatz ging. „Da wären noch einige Dinge zu klären.“
Damit wusste ich, dass er das Buch meinte. Sollte ich es hergeben oder sollte ich es zerreißen? Es stand fest: Würde ich es zerreißen, müsste Chris gehen. Dann könnte Pilburg seine eigene Darstellung schreiben. Würde ich es hergeben, müsste Pilburg gehen, weil Chris' Darstellung bei der Auswertung äußerst gefährlich wäre und Pilburgs Kompetenz in Frage stellen würde. Ich denke nur an die Ledertasche und die Pillenkiste, die Pilburg bei der Feuermeldung unbedenklich zurückgelassen hatte.
Ich sah Pilburg über den Parkplatz gehen, wie er schlecht gekleidet und abgekämpft seinen alten Chrysler aufschloss. Pilburg musste schon über 50 sein. Zumindest sah er so aus. Vielleicht war er für diesen Job schon zu alt. Vielleicht war es an der Zeit, einen neuen Arzt auf unserer Station walten zu lassen.
Ich drückte das Buch immer noch an meine Brust und fragte Jenny, ob sie Lust auf ein Kaffee in Annies Inn hatte. Sie sah mich an, dann auf das Buch. „Bob“, sagte sie, „mir ist nicht nach einem Kaffee.“
Wäre ich Chris, würde ich fragen: „Nach Sex?“ Sie sah verdammt gut aus. Wie gerne hätte ich sie in dieser Nacht bei mir gehabt.
Wir fuhren Heim, jeder in seins.
Ich konnte nicht schlafen. Es war, als vollzog sich in mir ein unerklärlicher Wandel. Ich stand vor der größten Entscheidung meines bisherigen Lebens. Chris oder Pilburg? Wer konnte mich jetzt mit Vernunft füttern? Sollte ich Jenny anrufen? War das klug? Sie war keine Außenstehende. Sie arbeitete für diese Klinik. Würde sie es zulassen, einen Kollegen anzugreifen?
Andererseits konnte niemand mit Sicherheit sagen, ob Chris' Darstellung stimmte. Oder doch? Da war doch Samuel, der Kiosk-Besitzer. Laut Chris' Aufzeichnungen hatte er alles gesehen und wahrscheinlich auch die Polizei und den Krankenwagen gerufen.
Um halb eins in der Nacht ging mein Telefon. Ich döste vor mich hin und nahm den Hörer ab. Es war Jenny. „Bob, sind Sie noch wach?“, fragte sie leise.
Sicher, wie sollte ich sonst abnehmen? „Ja“, sagte ich. „Wie soll ich auch schlafen?“
„Brauchen Sie jemanden, der Ihnen zuhört?“
Oh ja, und wie! „Nein“, sagte ich. „Das schaffe ich schon. Was wäre ich für ein Psychologe, wenn ich die Situation nicht im Griff hätte.“
Ruhe in der Leitung.
Dann fragte sie: „Was hat Chris über den Ausflug geschrieben?“
Da war sie, die Frage, auf die ich gewartet hatte. Wollte Jenny aus privatem Interesse oder für Pilburg diese Information haben? War sie eine schwarze Böse oder eine gute Weiße? Gott!, wie sehr hatte mich Chris schon im Griff!
Ich antwortete: „Nichts besonderes. Nur, dass er Filzstifte bekommen hat. Und dann hat er Brennnesseln gefunden. Das macht die Haut noch roter, dachte Chris. Also hat er es den Roten auf die Haut gerieben. Nichts Böses also.“
Sie unterbrach mich: „Bob?“
„Ja.“
„Darf ich die Aufzeichnungen mal lesen?“
„Es steht nichts drin“, sagte ich noch einmal, aber irgendwie zu nachdrücklich. Das musste sie ja aufmerksam machen. Sie sagte: „Wäre es nicht besser, wenn Ihnen bei der Angelegenheit jemand hilft?“
„Welche Angelegenheit?“, fragte ich. „Ich habe doch nichts gemacht.“
„Es geht ja auch nicht um Sie“, sagte sie. „Es geht um Chris, nicht um Sie.“
Jetzt fühlte ich mich in meiner Ehre als Psychologe angegriffen. „Sie glauben, dass ich zu blöd für diesen Fall bin?“
Jenny schwieg. Das Schweigen der tausend strafenden Worte. Dann sagte sie: „Chris nimmt uns alle sehr ein.“ Wollte sie vielleicht hoch sagen?
Ich sagte: „Er ist bei uns, weil er Hilfe braucht. Wir haben nur noch
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