Vielleicht will der Kapitalismus gar nicht, dass wir gluecklich sind
bis es sein Schlachtgewicht erreichte, heute nur noch 44 Tage dafür braucht, und künftig nur 40 Tage leben darf oder 35 Tage? Wann ist Schluss? Schmeckt das Fleisch dann besser? Wahrscheinlich nicht, denn für diese Ertragssteigerung muss es mit noch mehr Wachstumshormonen und Antibiotika vollgestopft werden.
Der Steigerungskapitalismus kann aber nicht aufhören. Die Renditelogik zwingt ihn, noch effizienter zu werden, noch profitabler, noch produktiver. Wir ahnen, dass wir dieses Steigerungsspiel verlieren werden.
Eine weitere Steigerung macht keinen Sinn. Die vielen Lebensmittelskandale illustrieren es drastisch: Wenn 11 000 Schüler in Ostdeutschland an Brechdurchfall erkranken, weil ein einziger Caterer ihnen verseuchte Billigerdbeeren aus China vorsetzt, dann merkt man, dass das radikale Effizienzdenken nicht mehr Wohlstand erzeugt, sondern Mangel. Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt, ist das Schulessen seiner Kinder nur wenige Cent wert. Als ob wir uns im Kriegswinter 1944 befänden und die billigste Kalorienversorgung an die Schulfront schaffen müssten! Ausgerechnet bei einem der elementarsten Dinge herrscht ein Kostendruck, als ob das Land verarmt wäre und sich keine Essensrationen mehr leisten könnte. Das Preissystem ist so verzerrt, dass Erdbeeren aus China preiswerter sind als Äpfel vom Obstbauern aus der Umgebung. Das Effizienzdenken ist derart dominant, dass der eigentliche Sinn des Essens, nämlich Geschmack, Gesundheit und Gemeinschaft, völlig in den Hintergrund getreten ist. Dass es auch anders geht, zeigen einzelne Schulversuche wie etwa in Hildesheim, wo Kinder gemeinsam kochen und ein Gefühl für Esskultur entwickeln können. Aber das sind leider nur Ausnahmen.
Damit geht es dem System im Großen wie Otto Normalbürger im Kleinen. Eine sehr nachdenklich stimmende Studie der Universität London 3 fand nämlich heraus, dass die Menschen im Durchschnitt ein höheres Einkommen nicht dazu verwenden, um mehr Zeit für glücklich machende Tätigkeiten zu haben. Je mehr sie verdienen, desto stärker neigen sie dazu, mehr Zeit für unglücklich machende Tätigkeiten aufzuwenden: Sie nehmen dann längere Pendelzeiten für den Weg zur Arbeit in Kauf, haben weniger Freizeit und damit auch weniger Zeit für Familie und Freunde. Seltsam. Unsere Seele weiß zwar, was uns glücklich macht, unser Verstand schafft es aber nicht immer, es umzusetzen. Auch unser Wirtschaftssystem meldet täglich neue Erfolge, die zumeist versprechen, das Leben angenehmer und einfacher zu machen oder Zeit zu sparen. Dennoch nehmen Stress und Hektik zu. Wir produzieren immer mehr, aber offenbar nicht das, was uns zufrieden macht.
Der gegenwärtige Kapitalismus erinnert mich an Sisyphos, der immer wieder denselben Felsbrocken den Berg hochrollen muss: Wir arbeiten uns vergeblich ab, ohne das Ziel zu erreichen. Es scheint sogar in immer weitere Ferne zu rücken. Was war das Ziel eigentlich noch mal?, fragte ich mich auf jener nächtlichen Autofahrt nach Hause. Da schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: Vielleicht will der Kapitalismus gar nicht, dass wir glücklich sind?
Hatte er das je behauptet? Ich erinnerte mich an die berühmte Analyse von Max Weber, der gezeigt hatte, dass an der Wiege des modernen Kapitalismus die Puritaner standen, denen wir ein epochales Umerziehungsprogramm verdanken: Sie machten aus Menschen, die »von Natur aus einfach so leben wollen, wie sie zu leben gewohnt sind, und so viel erwerben, wie dazu erforderlich ist« 4 , »Berufsmenschen«, die den Sinn ihres Lebens in der Optimierung ihrer Arbeitsleistung sehen und ihr Leben auf maximalen Nutzenertrag ausrichten. Dass Topmanager wie Martin Winterkorn von VW einen penibel durchgetakteten 16-Stunden-Tag haben und für diese Arbeitsbesessenheit von den Wirtschaftsmedien als Vorbilder des Fortschritts gepriesen werden, ist Ausdruck einer Mentalität, die ohne die »protestantische Arbeitsethik« nie das Licht der Welt erblickt hätte. Ohne sie gäbe es auch nicht die Heldenrhetorik, in der McKinsey-Manager geschildert werden, wenn sie in »trägen« Betrieben mal so richtig aufräumen. Der moderne Manager hat niemals frei und niemals Zeit, er ackert, als gäbe es kein Morgen. Ständig verfügbar zu sein und für die Arbeit zu leben, der alles Private untergeordnet wird, ist bis ins mittlere Management hinein zum Statussymbol geworden. Die Puritaner wären stolz auf unsere Führungskräfte.
Zu Hause angekommen ging ich zum Bücherregal.
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