Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vielleicht will der Kapitalismus gar nicht, dass wir gluecklich sind

Vielleicht will der Kapitalismus gar nicht, dass wir gluecklich sind

Titel: Vielleicht will der Kapitalismus gar nicht, dass wir gluecklich sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max. A Hoefer
Vom Netzwerk:
wie alt er ist und welches Geschlecht er hat, sollen keinen Einfluss auf die Einstellung eines Mitarbeiters haben. Der Kern der Persönlichkeit soll bewusst ausgeklammert werden, nur noch berufliche Qualifikationen sollen relevant sein. Der Mensch wird auf seine reine Arbeitskraft reduziert: Das ist sein Nutzen, mehr hat den Arbeitgeber nicht zu interessieren. Menschliche Sympathie ist keine ökonomische Kategorie.
    Die anonyme Bewerbung spiegelt ökonomisches Denken in nuce wieder, und es zeigt sich hier sehr anschaulich, wie eng ökonomischer und moralischer Puritanismus zusammenhängen und sich ergänzen. Dass ein Mitarbeiter mehr sein könnte als sein Nettonutzen als Produktivkraft, undenkbar! Man stelle sich vor, ein Arbeitgeber ziehe einen Bewerber vor, weil ihn dessen Persönlichkeit mehr überzeugt als dessen Berufsqualifikation.
    Das einzig relevante Einstellungskriterium sind dann ausgerechnet die Schul- und Arbeitszeugnisse. Aber wird irgendwo sonst, außer beim Sex, mehr gelogen als bei Arbeitszeugnissen? Jedes Arbeitszeugnis besteht grundsätzlich aus Standardformeln, deren exakte Bedeutung nur die Personalchefs entschlüsseln können. Ausgerechnet bei den Problemfällen versagt sogar deren Kompetenz, denn ein gutes Zeugnis kann eingeklagt werden, was bei streitigen Kündigungen auch regelmäßig geschieht. Die anonyme Bewerbung räumt somit die menschlichen Auswahlkriterien beiseite und ersetzt sie durch scheinobjektive Falschaussagen.
    In der Praxis entscheiden über die Einstellung glücklicherweise immer noch das persönliche Gespräch und die Probezeit. Um auch diese subjektive Beurteilung abzuschaffen, müssten die Behörden die Ganzkörperburka für den diskriminierungslosen Arbeitsalltag einführen. Dennoch entsteht schon heute durch das Antidiskriminierungsgesetz ein Schaden, weil den Betrieben ehrliche Argumentation unmöglich gemacht wird. Früher erklärten die Arbeitgeber einem Kandidaten noch, warum sie ihn nicht eingestellt haben. Diese nützlichen Hinweise sind ihnen inzwischen zu gefährlich geworden, denn sie fürchten Schadensersatzklagen wegen Diskriminierung, worauf sich einige Experten für das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz ( AGG ) schon spezialisiert haben.
    Die Hypermoral hat die Moral nicht gehoben, sondern gesenkt. Das AGG ist ein Beispiel für übertriebenen Moralismus. Ich frage mich, ob je eine italienische Pizzeria in Deutschland verklagt wurde, weil darin nur Italiener arbeiten? Aber wahrscheinlich stört sich keiner daran, ich jedenfalls nicht.
    Nichtdiskriminierung ist auch die Leitidee hinter den seit 2013 geltenden Unisextarifen für Versicherungen, die nur noch geschlechtsneutral zu berechnen sind. Beiträge und Leistungen dürfen nicht mehr die Risiken widerspiegeln, die bei Männern und Frauen sehr unterschiedlich sein können. Eine Risikolebensversicherung kostete eine Frau bislang weniger, weil bei Frauen aufgrund ihrer höheren Lebenserwartung der Versicherungsfall mit geringerer Wahrscheinlichkeit eintritt. Nun müssen sie bis zu 70 Prozent höhere Unisex-Prämien zahlen, während Männer lediglich bis zu 22 Prozent sparen. Aus dem Nullsummenspiel, dass Männer für einige Versicherungen mehr und Frauen dafür weniger zahlen müssen und umgekehrt, ist also nichts geworden. Weil Risikolebensversicherungen für Frauen unattraktiver werden, wird der Männeranteil deutlich zunehmen. Sollten die Frauen ganz aussteigen, wäre die Männerprämie wieder mathematisch korrekt dort, wo sie herkam, die Frauen hätte das Gesetz allerdings um eine Versicherungsform gebracht. Dass die Versicherer die Prämien bei der Gelegenheit der Unisex-Umstellung auch gleich kollektiv anheben, entspricht zwar nicht der reinen Lehre von Angebot und Nachfrage, aber der Lebenserfahrung. Diese blenden Moralisten aber grundsätzlich aus. Jetzt bilden sie sich ein, die Menschen gleicher und freier gemacht zu haben. Das Gegenteil ist der Fall.
    Und noch ein Beispiel: Das Gebot absoluter Transparenz hat das Zeug, sich zu einem Instrument des Tugendterrors zu entwickeln. Auch hier ist Kalifornien der Vorreiter: Als »Google Street View« in Deutschland eingeführt werden sollte, war das Land in Aufruhr. Ganz anders als in den USA oder in Holland, wo bereits klaglos das ganze Land abgefilmt worden war. Ein Grund für die unterschiedliche Reaktion war das calvinistische Erbe, das Holland mit den amerikanischen Puritanern gemeinsam hat. In den Niederlanden baute man seit dem 18. Jahrhundert das

Weitere Kostenlose Bücher