Vielleicht will der Kapitalismus gar nicht, dass wir gluecklich sind
deklariert, wird es an den grundlegenden Mentalitätsproblemen nichts verbessern.
Als Wüllenweber im Zuge seiner Recherchen über die Unterschicht von Sozialwissenschaftlern wissen wollte, ob sie denn über deren Lebensweise forschten und warum dort vieles in der Verwahrlosung ende, schlug ihm »offene Aggression« entgegen. Am Dogma der Armut wollen viele »Armutsforscher« nicht rütteln: Die Armen sind auch nicht anders als der Rest der Gesellschaft, sie haben nur weniger Geld. Doch ist die Lebenssituation der Unterschicht nicht auf Geldarmut zurückzuführen, sondern auf ein Mentalitätsproblem. Manche scheitern in der Beschleunigungsgesellschaft, manche wollen erst gar nicht hinein in den Arbeitsmarkt, Lebenskünstler sind sie aber auch nicht. Sie haben keine Ahnung, wie sie ein gutes Leben führen sollen. Für ein gelingendes Leben muss man nicht reich sein.
Wüllenweber legt minutiös dar, dass die Sozialbranche in den vergangenen 15 Jahren sechsmal schneller gewachsen ist als die gesamte Wirtschaft und dass sie ein äußerst lukratives Geschäftsmodell betreibt. Die Sozialindustrie wächst so stark, weil sie ihre hohen Überschüsse in permanentes Wachstum reinvestiert, und sie versteht es, sich ständig neue »Kunden« zu beschaffen. Wüllenwebers ernüchterndes Fazit: »Die Hilfsindustrie bekämpft den Lebensstil der Unterschicht nicht. Sie lebt davon.«
Ein Punkt ist noch wichtig: Die Hilfsindustrie ist zu einem hohen Grad Privatwirtschaft, wenn auch gemeinnützig. Die alten ideologischen Lagerzuordnungen gelten hier also nicht. Es steht nicht die böse Privatwirtschaft gegen den guten Staat oder umgekehrt. Der Staat füttert eine wachstumsgierige private Hilfsindustrie. Staat und Markt ziehen hier an einem Strang und dem Steuerzahler das Geld aus der Tasche.
Die ideologisch aufgeheizte Dauerkontroverse »Markt kontra Staat« ist ein Showkampf. Beide haben zwar unterschiedliche Interessen, aber auch viele gemeinsame, und sie brauchen einander. Beide sind auf Wachstum programmiert. Die Zufriedenheit der Menschen interessiert sie kaum. Das ist die Lage. Die Dogmatiker auf beiden Seiten wollen das aber nicht hören. Sie lenken uns mit ihren Phrasen ab, und dabei übersehen wir, dass wir das eigentliche Ziel des Sozialstaats, Menschen dabei zu helfen, ein selbstständiges und gutes Leben zu führen, längst aus den Augen verloren haben.
»Sozial ist, was Arbeit schafft« – ein Rückblick auf die Agenda 2010.
Um den Sozialstaat tobt ein »Glaubenskrieg« 13 . Glaubenskrieger gibt es auf beiden Seiten 14 , sie vertreten Heilslehren mit religiöser Inbrunst und stehen den wirklichen Problemen des Sozialstaats am meisten im Weg. Die glühendsten Anhänger des Sozialstaats sehen in ihm einen Gegenentwurf zum Raubtierkapitalismus. Er soll befreite Räume schaffen und das »Glück auch dort versprechen, wo keine Macht ist«, wie Adorno 15 sagte. Die Marktradikalen sehen ihn ausschließlich als unproduktiven Kostgänger fleißiger Unternehmen und Hemmschuh für mehr Beschäftigung.
Einige Glaubenskrieger des Wohlfahrtsstaats habe ich kennengelernt. Die INSM war so etwas wie ihr Lieblingsfeind. Sie dichteten dieser arbeitgebernahen Kommunikationsagentur einen geradezu allmächtigen Einfluss an. Als »wahre Regierung« bezeichneten uns die VDI Nachrichten . Als ob Angela Merkel täglich zum Diktat erschiene. Die Wut diverser linker Gruppen und Vordenker, etwa des Soziologen Christoph Butterwegge, war echt. Die Agenda 2010 war ihr Menetekel. Ausgerechnet ein sozialdemokratischer Kanzler betrieb in ihren Augen einen beispiellosen Sozialabbau, nachdem Lafontaine 1999 Gerhard Schröder das Feld überlassen hatte. Die rot-grüne Regierung kürzte den Spitzensteuersatz von 53 Prozent auf 42, sie senkte mit der Riesterrente das Rentenniveau, und sie verschärfte mit den Hartz-Reformen die Arbeitsmarktregeln, indem der Bezug von Arbeitslosengeld verkürzt und an mehr Arbeitsbereitschaft koppelt wurde. Wir von der INSM hatten mit »Sozial ist, was Arbeit schafft« einen einprägsamen Slogan zur Agenda 2010 erfunden und eine breite Plattform von Politikern organisiert, die den Slogan unterstützten: Wolfgang Clement war ebenso dabei wie Olaf Scholz, Fritz Kuhn, Wolfgang Schäuble und Guido Westerwelle.
Das Credo »Sozial ist, was Arbeit schafft« definierte das Wort »sozial« neu: Bislang bedeutete »sozial« schlicht, dass der Staat mehr Geld ausgibt: mehr BA föG, mehr Sozialhilfe, mehr Kindergeld und so weiter. Die
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