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Vier Arten, die Liebe zu vergessen

Vier Arten, die Liebe zu vergessen

Titel: Vier Arten, die Liebe zu vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thommie Bayer
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muss …«
    Sie unterbrach ihn sofort: »Er sagte, du willst, dass er behauptet,
jemand sei gestorben und du müsstest deshalb unbedingt nach Hause kommen.«
    Michael wusste nicht, ob er heulen sollte oder in Ohnmacht fallen.
Bei dieser Lüge ertappt zu werden war so unglaublich peinlich, dass er deutlich
spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg, und hörte, wie es in seinen Ohren
rauschte. Er brachte kein Wort heraus.
    Â»Rauchst du?«, fragte Frau Buchleitner. Sie nahm eine Schachtel
Camel ohne Filter vom Teetischchen und hielt sie ihm hin. Er nahm eine heraus
und griff nach den Streichhölzern, die ebenfalls auf dem Tischchen lagen. Er
dachte nicht darüber nach, dass das völlig unmöglich war – eine erwachsene
Lehrerin durfte einem minderjährigen Schüler nicht das Rauchen erlauben, und
schon gar nicht durfte sie ihm eine Zigarette anbieten –, er zündete sie an und
war froh, irgendwas zu tun, etwas in den Händen zu halten und nicht nur rot zu
sein.
    Â»Wenn das rauskommt, bin ich meine Stelle los«, sagte Frau
Buchleitner, »also denk bitte dran, dass das unter uns bleibt.«
    Â»Klar«, sagte er und hörte zum ersten Mal seit vielleicht einer
Minute seine eigene Stimme wieder.
    Â»Magst du Beethoven?«
    Er hob die Schultern. Er wusste nicht, was diese Frage jetzt sollte,
und bevor er eine blöde Antwort geben würde, gab er lieber keine.
    Sie stand auf, kniete sich vor einen Stapel Platten, suchte eine
heraus und legte sie auf den Plattenteller.
    Â»Das fünfte, mein Lieblingskonzert«, sagte sie, und nach dem
Knistern erfüllte der Klang von Klavier und Orchester wie Aprilwetter mit
launischem Wechsel zwischen wilden, jagenden und elegisch getragenen Passagen
den Raum, und Frau Buchleitner setzte sich wieder und zündete sich selbst eine
Zigarette an.
    Â»Also, was ist los?«, fragte sie ihn direkt.
    Â»Ich halt’s einfach nicht aus«, sagte er.
    Â»Ist dir euer gestriger Umtrunk peinlich?«
    Â»Ja, das auch.«
    Â»Und was noch?«
    Â»Ich hab Heimweh.«
    Sie sah ihn an, zog an ihrer Zigarette, schnippte die Asche in den
winzigen Alabasteraschenbecher, der zu ihrer damenhaften Erscheinung passte,
als wäre er für sie persönlich hergestellt worden, dann sagte sie: »Du schienst
mir bisher nicht gerade große Sehnsucht nach deinem Zuhause zu haben. Dass die
jetzt auftaucht, ist eine Überraschung für mich.«
    Michael hob wieder die Schultern. Er fand es unzureichend, ein
Schulterzucken ist eine eher kindische Reaktion, und er wollte sich der Ehre
würdig erweisen, die ihm mit der Zigarette und der Musik zuteilgeworden war,
aber ihm fiel einfach nichts ein. Fragen, die man nicht beantworten kann,
werden mit Schlägen, Gebärden oder Schnauben quittiert – wenn es keine Worte
gibt, müssen es eben Bewegungen oder Geräusche sein.
    Â»Könnte das, was sich so schmerzhaft wie Heimweh anfühlt, denn
vielleicht auch einfach bloß der Kater sein?«
    Â»Ich weiß nicht«, sagte Michael und musste lächeln, »ich hatte noch
nie einen.«
    Â»Ich würde vorschlagen, du probierst es aus«, sagte sie, ebenfalls
lächelnd, »wenn es morgen noch immer so schlimm ist, fährst du heim, und wenn
es besser geworden ist, war’s der Kater.«
    Â»Ich will jetzt schon nicht mehr heim.«
    Â»Aha?«
    Â»Mein Vater hätte mich nicht verraten dürfen.«
    Â»Das kann man so sehen«, sagte Frau Buchleitner, »aber er hat dir
vielleicht auch einen Gefallen getan mit seiner Ehrlichkeit mir gegenüber. Wenn
du durchhältst, bist du vielleicht stolz auf dich. Dann hat sich seine
Entscheidung gelohnt.«
    Sie schwiegen eine Zeit lang. Die Zigarette war aufgeraucht, eine
zweite bot sie ihm nicht an und hätte er auch nicht gewollt. Sein Magen war
schon jetzt wieder recht lebendig.
    Â»Die Musik ist toll«, sagte er irgendwann.
    Â»Hättest du Lust, Klavier zu lernen?«
    Â»Ja.«
    Â»Ich überrede deinen Vater, dass er dir den Unterricht bezahlt.«
    Jetzt war das Klavierkonzert leise und betörend schön, schlug keine
Kapriolen mehr, sondern floss wie ein breiter Strom aus den Lautsprechern, und
Frau Buchleitner machte keine Anstalten, ihn hinauszukomplimentieren, also
blieb Michael sitzen, bis die A-Seite der Platte zu Ende war. Dann stand er auf
und sagte: »Danke.«
    Â»Ich drück die Daumen«, sagte Frau

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