Vier Arten, die Liebe zu vergessen
Buchleitner.
In den Tagen danach war Michael tatsächlich stolz, dass er nicht
aufgegeben hatte, und für den Rest seines Lebens bekam er nie wieder Heimweh.
Und nie wieder einen Vollrausch.
~
Durch den Giudeccakanal schob sich ein Kreuzfahrtschiff,
dessen Schornstein den Campanile auf dem Markusplatz noch überragte. Die
Passagiere auf den obersten Decks standen haushoch über den Dächern der Stadt.
Es war ein absurder Anblick, der sich mehrmals in der Woche bot, obwohl man
wusste, dass die Wellen und Vibrationen der Schiffsmotoren den Fundamenten der
Stadt schadeten. Deshalb wurden die riesigen Schiffe seit einigen Jahren von
(vergleichsweise) winzigen Schleppern gezogen, was immerhin die Vibration minderte â die Wellen blieben.
In diesen Momenten sah die Stadt aus wie Spielzeug. Das alles
überragende Schiff bildete den MaÃstab. Jedes Foto davon hätte wie eine
schlechte Montage gewirkt. Vielleicht sah man deswegen keine.
Wie so oft beim Ablegen lief My Heart will go on von Celine Dion, der Titelsong des Titanic-Films. Michael hörte die Musik,
obwohl er sich dreihundert Meter entfernt vom Kanal aufhielt, am Rande des
Campo San Barnaba, wo er den Gemüsehändlern auf ihren Booten beim
Zusammenpacken und Ablegen zusah.
Das Stück Pizza und das Warten auf eine Zeile Text hatten ihn müde
gemacht, und er ging nach Hause, um den Nachmittag zu verschlafen. Er wollte so
bald wie möglich zurückkehren zu seiner alltäglichen Langeweile, denn die war
die Voraussetzung für seinen Beruf. Erst die Langeweile öffnet den Geist für
Melodien oder Zeilen â Anstrengung hilft nicht. Und in dem noch immer
aufgewühlten Zustand, in den ihn sein gestriger Besuch an Emmis Grab versetzt
hatte, würde ihm auch kein Nebel helfen. Er musste runterkommen. Er musste
aufhören, an Corinna, Erin, Thomas, Bernd und Wagner zu denken.
Das gelang ihm nicht. Sie waren in doppelten Bildern vor seinem
inneren Auge: einmal als Kinder und einmal so, wie er sie gestern gesehen
hatte. AuÃer Emmi und Corinna natürlich, deren Bilder waren einfach und älteren
Datums: Corinna, die brünette Schönheit, die so hitzig und hemmungslos mit ihm
geschlafen hatte, deren Hintern in den ausgebleichten Jeans er sich noch immer
auf dem Fahrrad vergegenwärtigen konnte, und Emmi, die zarte, aber stark
wirkende Dame groÃbürgerlicher Herkunft, aber bäuerlich aufgewachsen, die es in
die Existenz einer Internatslehrerin und alleinerziehenden Mutter verschlagen
hatte.
~
Nicht lange nach dem denkwürdigen Neujahrsmorgen am
Chiemsee hatten sich Bernd und Wagner eine Zermürbungstaktik für ihre Erzfeinde
ausgedacht. Es war eine Art psychologischer Kriegsführung. In späteren Jahren
würde man das Mobbing nennen, damals gab es noch keinen Fachbegriff dafür: Wann
immer Thomas oder Michael etwas sagten oder taten, sei es im Unterricht, sei es
beim Essen oder Sport, ernteten sie Gelächter, Kichern, Schnauben oder andere
herabsetzende Geräusche aus Bernds und Wagners Richtung.
Bei Michael erreichten die beiden damit ihr Ziel, es traf ihn, weil er
sich noch immer blamiert fühlte. Er hatte seinen Vater angebettelt, ihn
heimzuholen, Frau Buchleitner hatte ihn reaktionsschnell daran hindern müssen,
sie glatt anzulügen, er schämte sich vor ihr. Das wussten Bernd und Wagner
natürlich nicht, aber Michael wusste es, und er sah sich als Weichling und
Feigling. Dass er bereit gewesen war, Thomas einfach im Stich zu lassen (falls
sein Vater mitgespielt hätte), kam noch dazu.
Und was darüber hinaus noch seine Stimmung drückte, war die
Verwüstung ihres Geheimlagers. Er hatte mit Thomas im Herbst einen alten,
wackligen Hochsitz im nahen Wald in Besitz genommen. Dort rauchten sie,
erklärten einander die Welt, die Frauen und die seriöse Anwendung von Kondomen,
die sie zwar noch lange nicht brauchen würden, aber wenn, dann wären sie
vorbereitet.
Bei ihrem ersten Besuch dort im neuen Jahr entdeckten sie einen
säuberlich in die Mitte der Bank gesetzten ScheiÃhaufen. Er war gefroren und
dadurch konserviert, würde den olfaktorischen Anteil der Verachtung, die er
ausdrücken sollte, erst im Frühjahr nach der Schneeschmelze ausdünsten, und sie
hätten ihn jetzt, so hart und damit handlich, wie er war, auch leicht entfernen
können, aber sie taten es nicht.
Thomas wollte das ziemlich regelmäÃig schneckenförmige Ding
Weitere Kostenlose Bücher