Vier Arten, die Liebe zu vergessen
ersten Monat, ab dann
würde er von seinem dort verdienten Geld leben können.
»Die schenk ich dir«, sagte sein Vater.
Nach einem sehr kurzen Gespräch, in dem sein Vater so tat, als
interessiere er sich für Michaels Studium, und Michael so tat, als existiere
dieses Studium noch, legten sie auf und waren beide froh, für die nächsten
Monate ihre Pflicht getan zu haben und nichts mehr voneinander hören zu müssen.
Ihr Verhältnis war schon seit Jahren ohne alle Herzlichkeit, diese beiden
Menschen verband nichts mehr auÃer ihrer Blutsverwandtschaft, und die bedeutete
ihnen nichts.
~
Anfangs, während der ersten Zeit im Internat, hatte
Michael sich noch manchmal nach zu Hause gesehnt, aber die Besuche über
Feiertage oder in den Ferien waren jedes Mal so ernüchternd gewesen, dass er irgendwann
nicht mehr wollte.
Sowohl sein Vater als auch dessen Frau spielten ihm ein Interesse
vor, das sie in Wahrheit nicht aufbringen konnten, und obwohl sie ihm nicht
übelwollten, gelang es ihnen nicht, ihm das Gefühl zu geben, er sei willkommen
und gehöre dazu. In ihrem Kosmos war Michael ein Fremder, der zwar nichts Böses
tat und eigentlich auch nicht störte, aber sie schafften es nicht, ihn als ein
Kind zu sehen, ihr Blick auf ihn war eher wie der auf ein Meerschweinchen.
Neutral, ohne Abneigung, aber auch ohne Zuneigung.
Beim letzten Mal, als Michael Heimweh gehabt hatte, war er fünfzehn
gewesen und nicht nach Hause gefahren, weil Thomas das auch nicht konnte â
seine Mutter war auf eine Schiffsreise eingeladen worden. Michaels Stiefmutter
war schwanger, und es sollte jeden Moment so weit sein, also traf er wieder
einmal genau ihren Nerv mit seiner Bitte, im Internat bei Thomas bleiben zu
dürfen.
Dort war man auf so etwas aber nicht eingerichtet, deshalb hatten
sie Emmi Buchleitner gefragt, ob sie über die Feiertage vielleicht bei ihr
wohnen könnten. Sie würden auch bestimmt nicht stören, etwas anstellen oder
sonstwie zur Last fallen. Frau Buchleitner war gerührt über diesen
Vertrauensbeweis, hatte aber einen besseren Vorschlag: Sie konnten sich ein
bisschen Geld verdienen als Hilfskräfte im Hotel ihrer Schwester am Chiemsee.
Dieses Hotel hatte sich noch Grandeur bewahrt. Zur Teezeit und
abends in der Bar spielte ein Jazztrio leichte Melodien, die zwar niemanden
störten, aber dennoch Musik waren â wer hinhörte, wurde nicht mit einer platten
Geräuschkulisse abgespeist â, die Band war gut. Und Michael hörte hin, sooft er
konnte.
Thomas hatte dazu mehr Gelegenheit, denn er bediente nachmittags als
Hilfskellner, war meistens hinter der Theke zugange, manchmal aber auch direkt
in Kontakt mit den Gästen, wenn er ihnen Zucker, Nüsse oder Pralinen an den
Tisch bringen durfte. Sein gewinnendes Wesen und sein vollständiger Mangel an
Schüchternheit machten ihn schnell beliebt, und er sonnte sich im Wohlwollen
all dieser gut betuchten Herrschaften mit ihren blasierten Töchtern und sportlichen
Söhnen, denen er sich nicht unterlegen fühlte, obwohl er sie bedienen musste:
Es war dieselbe Sorte Mensch wie seine Schulkameraden. Er war dieselbe Sorte. Nur dass er sich einer Erfahrung aussetzte, die sie nicht
nötig zu haben glaubten.
Michael hatte den weniger glamourösen Job, er half dem Kellermeister
morgens und zwischen den Essenszeiten und stand ansonsten an der riesigen Spülmaschine,
wo er stapelweise schmutziges Geschirr ein- und sauberes ausräumte.
Der Geruch nach Chlor und Braten gefiel ihm, und das Dröhnen und
Klirren und Rauschen gab ihm das Gefühl, im Bauch einer groÃen Maschinerie
etwas Sinnvolles zu tun, etwas, das die Maschinerie weiterlaufen lieÃ. Wäre
noch Diesel im Geruchsensemble enthalten gewesen, dann hätte er sich vorstellen
können, in einem Schiff unterwegs zu sein.
Die Müdigkeit, die ihn abends auf sein Bett warf, gefiel ihm auch.
Es war Körpermüdigkeit. Sinnvolle Müdigkeit, nicht wie die nach einem langen
Schultag, bei der die Gedanken im Kopf weiterrasten und ihm den Atem kurz
machten. Nach den Tagen an der Spülmaschine raste nichts mehr. Er war
vollkommen fertig und fühlte sich innerlich aufgeräumt und so, als könne ihn
nichts mehr verwirren.
Sie teilten sich ein Zimmer im Personaltrakt und hatten einen
Nachbarn aus Finnland, der Timo hieà und ihnen beibrachte, was »ich ficke« auf
Finnisch heiÃt: »Mena nein.« Er
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