Vier Arten, die Liebe zu vergessen
fragte Wagner.
»Seit eben grade«, sagte Thomas und stellte sich mit dem Rücken zur
Lehrerin.
Mit einem schnellen Griff hatte Thomas das Feuerzeug an sich
gerissen und rannte los. Wagners Verblüffung über das in seinen Augen
aussichtslose, gar masochistisch anmutende Unterfangen verschaffte Thomas noch
einen zusätzlichen Vorsprung, den er nutzte, ohne auf die empörten Rufe der
Lehrerin zu achten: Er stob davon in Richtung Waldrand.
Sie hätten es mit Ausmessen und Ausrechnen nicht besser hinkriegen
können â der Plan gelang perfekt. Als Thomas in relativ sicherer Wurfweite beim
Hochsitz und dem dort wartenden Michael angekommen war, lag Wagner noch drei
Schritte hinter ihm. Thomas gab noch zwei Meter zu, holte aus und warf das Feuerzeug
präzise und fast lässig hoch zu Michael, der fing es und steckte es, aufgeregt,
aber sehr zufrieden, in die Mitte des längst nicht mehr so schmucken, aber wenigstens
noch immer feuchten und hinreichend unappetitlichen Haufens.
Währenddessen hatte Thomas unten einen Haken geschlagen und rannte
zurück zu seinen Mitschülern, während Wagner in blinder Wut die Leiter erklomm
und Michael versuchte, schnell genug über die Brüstung und an der Rückseite des
Hochsitzes hinunterzuklettern.
Er hatte gerade seinen Fuà auf die oberste der Querstreben bugsiert,
als das ganze Gebilde zu schwanken begann und in eine derart bedenkliche
Schieflage geriet, dass Michael lieber absprang, bevor ihn der Hochsitz unter
sich begraben konnte.
So weit kam es nicht. Unter Wagners wütenden Tritten brach eine der
oberen Sprossen, und er rasselte, einige weitere Sprossen in seinem Sturz mit
FüÃen, Hintern und Armen mit sich reiÃend, zurück auf die Erde, wo er stöhnend
liegen blieb.
Auch Michael stöhnte. Er hatte sich das Knie angeschlagen.
Inzwischen war die ganze Klasse da und umringte den am Boden liegenden Wagner.
Michael wagte sich heran, er hinkte und sah sich nach Thomas um, dessen Grinsen
langsam nachlieÃ, denn Wagner lag noch immer da â inzwischen stieà er klägliche
Laute aus, er hatte sich offensichtlich etwas gebrochen.
Oben auf dem schief stehenden Hochsitz steckte das Zippo im Haufen
und war für den Augenblick vergessen.
Vor dem Schulverweis wurden sie von Frau Buchleitner gerettet. Sie
hatte dem Direktor einen Handel abgetrotzt. Michael und Thomas mussten Wagner jeden
Nachmittag im Krankenhaus besuchen und mindestens eine Stunde in seinem Zimmer
bleiben. Und wenn Wagner seinen Knöchelbruch ausgeheilt haben würde, mussten
alle vier gemeinsam etwas auf die Beine stellen, das sie zur Abschlussfeier des
Schuljahres vortragen konnten. Ein Theaterstück, ein langes Gedicht, einen
Sketch, ein Musikstück, was immer sie sich heraussuchen würden, es musste
mindestens fünf Minuten lang und durfte nicht blamabel sein. Weder für die
Schule noch für die vier Vortragenden.
Zu ihrem ersten Besuch im Krankenhaus brachten Thomas und Michael
ein nagelneues Zippo mit. Es war nicht genau das gleiche, es hatte ein
Harley-Davidson-Signet anstatt eines Indianerkopfs, aber Wagner nahm es
schweigend an und studierte die Zimmerdecke weiter, als erscheine dort
demnächst die Teleprompter-Laufschrift für seine Rede an die beiden Idioten,
die ihn in diese Lage gebracht hatten.
Es erschien keine Schrift an der Decke, und aus Wagners Mund kam
auch kein Ton, und so wurde es eine unglaublich zähe, lange Stunde, bis Michael
und Thomas endlich wieder gehen durften.
~
Michael öffnete alle Fenster im Salon und legte sich auf
das gröÃte der Sofas. Er wollte das Tuckern der Boote hören. Dieses Geräusch
unterstrich für ihn das Privileg, das Luxuriöse am Mittagsschlaf â andere waren
bei der Arbeit, er konnte schlafen. Nach Minus hatte er nicht gesehen, die lag
sicher noch oben auf seinem Bett.
Gerade als die Bilder in seinem Kopf durcheinandergerieten und sich
eines ins andere mischte, fiel ihm die fehlende Zeile für Stone
to Sand ein. Er stand auf, ging in die Küche und schrieb sie dort auf
einen Zettel vom Einkaufsblock: Since all this changing
never ends, let us at least for now be friends.
Damit war nun allerdings an Schlafen nicht mehr zu denken, denn
jetzt lief die Melodie in seinem Kopf rund, und er begann mit den ersten Zeilen
für die Strophen.
Inzwischen war auch Luc wieder nebenan mit seinem Ball beschäftigt,
er hätte ihn ohnehin nicht schlafen
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