Vier Arten, die Liebe zu vergessen
Lötkolben, Schraubenschlüsseln und Platinen hervor.
»Er wird schwul«, sagte Michael, »ganz klar.«
»Was? Bist du verrückt?«
»War ein Witz. Sollte jedenfalls einer sein.«
»Du klingst wie Ian. BloÃ, dass der zu diesem Thema sicher keine
Witze macht.«
»Hat sich eigentlich was geändert? Hat er was gesagt?«
»Nein, aber ich setze auf deine Kartoffelsuppe.«
Von ihrem Mann erzählte sie nichts. Eigentlich wollte Michael
fragen, aber dann beschloss er, das nicht zu tun. Er würde noch rechtzeitig
erfahren, wie ihr Familienleben aussah. Nicht dass er schon wieder ins
Fettnäpfchen trat. Der Witz mit dem schwulen Sohn war nicht hundertprozentig
gelungen.
~
Ian hatte ein bisschen von der Suppe gegessen. Michael
übernahm die Abendschicht von acht Uhr bis drei oder vier â dann würde ihn
Megan wieder ablösen. Erin hatte, bevor sie zu einem Spaziergang aufbrach, um
danach früh schlafen zu gehen, ihren iPod gebracht und auf ein kleines
Beistelltischchen neben Ians Sessel gelegt.
Megan war in der Küche beschäftigt. Michael hörte Geschirr klappern
und eine Melodie, die sie leise vor sich hinsang. Das Knistern des Kaminfeuers,
der Geruch von brennendem Holz und die Meerluft (Michael hatte die Fenster
geöffnet) mischten sich zu einer beruhigenden kleinen unsichtbaren Federwolke
aus Selbstverständlichkeit, Müdigkeit und Frieden. Ian schlief.
Michael legte Patiencen auf dem iPad und hörte das Oasis-Album noch
einmal an. Er trank ein Glas Wein â Megan hatte ihm Flasche und Glas auf den
Tisch gestellt â, einen Negroamaro, den vermutlich auch Ian aus Italien
mitgebracht hatte.
Die beiden Welten waren schon ineinander verschränkt gewesen, bevor
Michael sich von der einen in die andere bewegt hatte. Die Antiquitäten aus
Venedig, die er hier wiedersah, die Gaggia-Maschine in der Küche, der Wein â
diese Dinge entsprachen den »irischen«, die er in seinem Haus hatte:
Gedichtbände, CD s, das Kilkenny im Kühlschrank. Ian
hatte schon Fäden gesponnen zwischen ihnen, deren Endpunkte Michael jetzt sah.
Erin kam von ihrem Spaziergang zurück, hängte ihre Jacke an die
Garderobe, ging zu einem zierlichen Barocksekretär und nahm einen Umschlag
heraus.
»Hier«, sagte sie, »das musst du, glaub ich, lesen.«
Sie gab ihm den Umschlag â es war ein Brief â und ging zu Megan in
die Küche. Das nahm Michael jedenfalls an, obwohl er sie dort nicht miteinander
reden hörte.
Liebe Erin, hoffentlich ist Dein Deutsch noch so
gut wie damals, ich würde das, was ich Dir schreiben will, nicht auf Englisch
hinbekommen. Für mich wird es Zeit, die Dinge zu regeln, deshalb denke ich über
mein Leben nach und die Menschen, die es bereichert haben. Du bist einer dieser
Menschen.
Ob Du Dich wohl noch erinnerst an Deinen kurzen
Auftritt in München, bevor Du nach Irland zurückgingst, um bald danach Deine
ganz eigene wunderschöne Musik zu machen? Es war ein kleiner Folkclub, wir sind
mit meinem Auto hingefahren und trafen dort einen früheren Schüler von mir,
Michael, der sich, was Du vielleicht nicht bemerkt hast, Hals über Kopf in Dich
verliebte.
Ich wollte damals, dass ihr einander kennenlernt,
denn er war ein sehr talentierter Sänger und Arrangeur, und ich glaubte bei
euch beiden eine ähnliche Art von Leidenschaft und Musikalität zu erkennen, ich
dachte, ihr würdet einander inspirieren.
Langer Rede kurzer Sinn: Ich bin mir sicher, das
ist geschehen. Dieser Michael ist Dein geheimnisvoller Komponist. Dein Wesen
und Deine Stimme haben ihn inspiriert, für Dich zu schreiben. Warum er das
allerdings geheim hält, sich Dir nie eröffnet hat, das ist ein Rätsel, das ich
nicht mehr lösen kann, denn er und ich haben den Kontakt zueinander verloren,
und ich will ihn nicht gerade jetzt, wo es nur noch ums Abschiednehmen geht,
mit meiner Entdeckung konfrontieren. Ich will ihm diesen Abschied nicht
aufzwingen, und ich will nicht, dass er sich unter Druck gesetzt fühlt, seine
Identität zu offenbaren.
Ich will aber auch nicht sein Geheimnis mit in
mein Grab nehmen, denn ich denke, für Dich ist es wichtig. Ich bitte Dich nur,
es ebenfalls zu wahren. Warum auch immer er sich von Dir fernhält, ich vermute,
aus Liebe und einer seltsamen Vorstellung von deren Zerbrechlichkeit,
konfrontiere ihn nicht damit, dass Du seine Identität kennst. Wenn er
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