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Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)

Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)

Titel: Vier Beutel Asche: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Koch
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tiefen Sonne geblendet, sahen wir ihr nach, bis sie zwei Feldlängen entfernt an einem großen Baum mit weiter Krone stehen blieb. Mit der einen Hand lehnte sie sich dagegen, auf die Entfernung wirkte sie furchtbar klein und verloren.
    Sie schrie.
    Schwarze Vögel stoben krächzend von den nahen Stromleitungen auf, bis zu uns wehte der Wind nur dünne, unverständliche Laute.
    »Es tut mir leid«, flüsterte Lena.
    »Schon gut.« Ich wollte sie berühren, in den Arm nehmen, tat es aber nicht. Das wollte ich Selina nicht auch noch antun.
    »Ich … ich musste ihm versprechen zu schweigen.«
    »Ja.«
    Reden ist Silber, Schweigen ist Gold , heißt es, aber ich konnte kein Gold entdecken. Warum hatte Christoph das verlangt? Er wollte seine Eltern schützen vor gehässigem Tratsch in der Pause, vielleicht sich selbst, aber warum auch vor Selina und mir?
    Ich dachte daran, dass seine Mutter ihn vielleicht deshalb nicht hatte loslassen können, dass sie sein Grab in der Nähe brauchte, weil sie allein zu schwach war. Auch wenn ich Mitleid haben sollte, fühlte ich nur Verachtung. Und noch viel mehr Verachtung für seinen Vater. Er hatte es verdient, vor einem leeren Grab zu stehen, er sollte nie wieder in Christophs Nähe kommen. Einen absurden Moment lang stellte ich mir vor, die Asche eines Punchingballs in die leere Urne zu schütten.
    Er hat viel Druck auf der Arbeit , hatte Christoph mal gesagt, das fiel mir jetzt ein. Fast beiläufig hatte er es gesagt, nur so dahin, ohne großen Zusammenhang, und da hätte ich nachfragen sollen, fragen, wie er damit umging, ob er Sport mache. Aber ich hab etwas gelabert, an das ich mich jetzt nicht erinnern konnte, und damit kann es nicht wichtig gewesen sein. Vielleicht gewichtete ich den Satz jetzt falsch oder bildete ihn mir gar ganz ein, doch vielleicht war die Floskel vom Druck tatsächlich ein Versuch gewesen, ein Gespräch über seinen Vater zu beginnen.
    »Scheiß Eltern«, sagte Maik in die Stille hinein, und es klang ehrlich und wütend, und doch begriff ich in dem Moment den Unterschied zwischen ihm und Selina und mir. Wir hatten geglaubt, diese Eltern zu kennen. Wir hatten mit ihnen geredet und gegessen. Es war nie besonders herzlich gewesen, das penibel aufgeräumte Haus wirkte so förmlich, Preisschilder an den Möbeln oder kleine Schildchen wie in einem Museum hätten mich nicht überrascht: Wohnzimmer einer westeuropäischen Mittelstandfamilie, Beginn des 21. Jhd . Aber ich hatte oft genug mit ihnen gelacht, um mich willkommen zu fühlen. Auch zu Selina waren sie zumindest höflich gewesen. Wir hatten geglaubt, Christoph zu kennen, wirklich zu kennen, so weit man einen anderen eben kennen konnte. Ich hatte nicht gewusst, dass er nackt skaten gewesen war, aber das war nur eine weitere Anekdote, die bestätigte, dass er für alles zu haben war, dass er verrückt sein konnte, großartig verrückt. Es passte und fügte sich nahtlos ins Bild.
    Das hier dagegen änderte alles. Und bestätigte alles, denn er hatte für seine Mutter eingestanden.
    Maik wusste vieles von Christoph nicht, für ihn war es ein neues Puzzlestück von mehreren. Es machte ihn wütend, aber es erschütterte ihn nicht. Er hatte es nicht wissen können, er musste sich nicht vorwerfen, blind gewesen zu sein.
    Auch Lena hatte es eigentlich nicht wissen können. Zufall hatte sie damals bei ihm vorbeigeführt. Warum nicht mich? Ich hätte es wissen sollen.
    Ich hatte Hunderte andere Möglichkeiten gehabt, es herauszufinden. Ich musste sie gehabt haben, auch wenn ich mich nicht erinnerte.
    Tut mir leid. Ich sah zu dem Aschebeutel hinüber.
    Selina kam langsam zurück. Sie hielt sich aufrecht und trug den Kopf hoch, ihr Blick war voller Zorn. »Es war richtig, ihn ihnen wegzunehmen. Sie haben seine Asche nicht verdient. Weiter.«
    Und wir schnürten die Schlafsäcke zusammen, obwohl sie noch nicht ganz trocken waren, und fuhren wieder los.
    Sobald ich achtzehn bin, hau ich hier ab.
    Der Satz hatte nun ganz neue Gründe bekommen.
    Wir ließen die Sonne hinter uns und fuhren immer Richtung Westen. So bald wie möglich kauften wir eine Straßenkarte und tankten für Geld, wir nahmen uns keine Zeit fürs Schnorren, und Lena konnte auch nicht mehr. In ihr Lächeln hatte sich Misstrauen geschlichen.
    Wir fuhren so schnell der Roller konnte, die wenigen Pausen beschränkten wir auf Essen, Trinken, Pinkeln, die schmerzenden Hintern ignorierten wir. Wir wollten dringend ans Meer, wir fuhren mit der Besessenheit von

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