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Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)

Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)

Titel: Vier Beutel Asche: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Koch
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weil sie darauf nichts zu erwidern wusste, und weil er keine Erwiderung erwartete. Dann fragte sie: »Und du? Hast du gute Vorsätze?«
    »Nein. Daran glaube ich nicht, ich hab … was anderes.« Misstrauisch sah er sie an. »Ich hätte das alles nicht erzählen sollen. Ist ja alles nicht so schlimm, wie es klingt, ich hab einen schlechten Tag, da übertreibe ich gern.«
    Sie hob eine Augenbraue. »Ich hab keinen schlechten Tag, und ich hab sie gehört.«
    »Es ist nicht so schlimm, das ist nur der Sekt.« Misstrauisch musterte er sie. »Ehrlich. Und das geht niemanden etwas an. Versprich mir, dass du keinem davon erzählst.«
    »Ich versprech’s.«
    »Meine Mutter … Er würde …« Hilflos hob er die Hände und ließ sie wieder fallen und widersprach damit seinen Beteuerungen von eben.
    »Ich sag nichts, Ehrenwort.«
    »Schwörst du’s?«
    »Wenn wir den Schwur mit einem Kuss besiegeln«, sagte sie und wurde rot, überrascht vom eigenen Mut.
    Er blinzelte. »Ich … ich hab eine Freundin.«
    »Eine feste?«, fragte sie leise. Ihr Herz verkrampfte sich.
    »Eine sehr feste.«
    Und sie stand da und fühlte sich vom Leben verraten. Es wäre einfach zu schön gewesen.
    Er beugte sich vor und küsste sie auf die Wange. Vorsichtig, ob wegen seiner Lippe oder der Freundin wegen, wusste sie nicht. Aber er küsste sie, und das hatte doch etwas zu bedeuten. Da, wo die Wange feucht war, brannte die Kälte, aber sie wischte sie nicht fort.
    »Danke«, sagte er.
    »Danke«, sagte sie.
    Und sie stieg auf den Roller und fuhr heim. Er war nicht wie seine Eltern, er würde sich nicht an eine tote Beziehung klammern. Und alle Beziehungen starben irgendwann, das hatte sie von ihren Eltern gelernt. Sie würde nur warten müssen. Er schien jemand zu sein, für den sich das Warten lohnte.

33
    Lena hatte zum Schluss immer leiser gesprochen und niemanden von uns angesehen. Die Sonne war hell und wärmte uns nicht. Vögel zwitscherten, als wäre es ein schöner Morgen, nur weil sich die Wolken vom Himmel verzogen hatten.
    »Du lügst«, sagte Selina und schob den Unterkiefer vor. Damit zeigte sie, dass sie nichts davon wusste. So wie ich auch.
    Lena schüttelte den Kopf. Sie zwinkerte rasch.
    Selina öffnete den Mund, aber sie konnte nichts erwidern. Vielleicht erinnerte sie sich an die dicke Lippe und eine amüsante Lüge, die Christoph ihr dazu aufgetischt hatte. Sie legte die Arme um die angezogenen Beine und stierte mit gesenktem Kopf auf ihre Füße. Vor wenigen Stunden erst hatte ich ihr versprochen, dass Christoph sie nicht betrogen hatte, aber nun hatte er es auf andere Weise doch getan. Er hatte mit einer anderen Geheimnisse geteilt, von denen er sie ausgeschlossen hatte.
    Auch mich hatte er belogen, und ich wollte wütend sein, aber ich war nur niedergeschlagen. Es war, als könnte ich die Schläge spüren, die er für seine Mutter eingesteckt hatte, und ich fragte mich, ob ich es hätte wissen müssen. Sehen, ahnen, durch Fragen herausfinden. Wie hatte ich das nicht bemerken können?
    Ich dachte an das unerträglich süße Rehkitz und daran, wie sehr seine Mutter es liebte.
    Selina hob den Kopf wieder. »Es kann nicht stimmen.«
    »Dann glaub mir halt nicht!« Lena sprang auf. »Was hab ich denn davon, euch zu belügen?«
    »Das weiß ich doch nicht!«
    »Ich glaub, dass es stimmt«, sagte Maik ruhig. »Niemand denkt sich so etwas mit dem Gehweg aus. Das ist viel zu bescheuert, das muss man erleben, um darauf zu kommen.«
    »Jan?«, fragte Selina.
    »Ich weiß nichts davon.«
    »Aber glaubst du es?«
    Ich dachte an die blauen Flecken, die Christoph immer auf irgendwas geschoben hatte, aufs Skateboarden, aufs Kicken, auf alles Mögliche.
    Ich krieg die bei der kleinsten Berührung , hatte er immer gesagt. Wie viele davon verdankte er den weniger kleinen Berührungen durch seinen Vater? Vielleicht keinen einzigen, aber es ergab Sinn, einen beschissenen, widerlichen Sinn. Lena sah mich fast flehend an, als wäre ich der Richter, der das Urteil fällt. Nach Lena und Maik stand es 1:1.
    »Ja«, sagte ich.
    Lena atmete tief durch.
    »Ich will nicht, dass es stimmt, aber …«
    »Ja.« Selina schaute in die Ferne, fort von uns und fort von der Sonne.
    »Irgendwie passt es. Er hat seiner Mutter geholfen, wie er immer geholfen hat.«
    »Er hätte es mir sagen sollen. Mir, nicht ihr.« Selina stand auf und ging davon, einfach in Richtung des aufkommenden Morgens.
    »He!« Maik erhob sich.
    »Lass sie.« Ich hielt ihn zurück.
    Von der

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