Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)
Taureau, unser Ziel.
Die Festung war 1542 zum Schutz der bedeutenden Hafenstadt Morlais vor Seeangriffen errichtet worden, verriet uns die Broschüre, fünfzig Jahre nach dem Tod des Korsaren Jean Coatanlem, der sich selbst »König der Meere« genannt, und mit dem Christoph die Festung immer verbunden hatte. Später war sie sogar ein Gefängnis gewesen, doch in Christophs Erinnerung immer nur das Gegenteil davon: die Heimat des Freibeuters von Morlaix, des Königs der Meere. Ungebunden, weil ohne Land, und frei, weil niemand einem König Befehle gab. Ein Ort, von dem aus man jeden Winkel der Ozeane erreichte, eine Festung, losgelöst von jedem Land. Von hier aus sollte Christophs Asche ihre letzte Reise antreten.
»Zu weit zum Schwimmen«, stellte Maik lapidar fest.
»Aber wunderschön.« Selina beschattete die Augen mit der Hand.
Eine Möwe stürzte über uns hinweg und schrie.
»Wir brauchen ein Boot«, sagte ich. Und wir würden erst dann übersetzen, wenn wir die Insel allein für uns hätten und jeder Verleih längst geschlossen hatte. Niemand sollte unseren Abschied von Christoph stören. Und das bedeutete, wir würden uns das Boot nehmen müssen, ohne Gebühr und ohne zu fragen, wie der König der Meere.
Wortlos zog ich die Schuhe aus und ging über den Strand bis ans Wasser, feinen warmen Sand zwischen den Zehen, und ohne zu zögern weiter, hinein in die Wellen, die kühl um meine Knöchel schwappten. Ich starrte hinaus, dorthin, wo Himmel und Meer aufeinandertrafen, ohne sich zu berühren. Wenn es tatsächlich etwas wie Ewigkeit geben sollte, dann musste sie irgendwo dort zu finden sein, nicht unter einem geschliffenen Stein hinter einer Mauer und im Schatten dunkler Bäume. Bäume konnten schön sein, riesig, und manche waren uralt, aber eben nicht ewig. Zum ersten Mal verstand ich Christophs Wunsch mit dem Meer richtig.
Kinder zu meiner Rechten kreischten vor Vergnügen, Möwen über mir hungrig, und doch war alles friedlich, das leise Plätschern der Wellen bestimmte alles. Der Wind kam über das Meer herein und kühlte die Sonne ab.
»Schön«, sagte Lena, die plötzlich neben mir stand.
»Ja.« Mehr gab es nicht zu sagen, das Meer machte alle Worte klein. Es füllte mich mit einer unbestimmten, richtungslosen Sehnsucht, anders als Fernweh, tiefer und drängender. Eine Sehnsucht nach allem, alles zu tun, alles zu sehen. Vielleicht zeigte einem das Meer auch nur, wie klein man selbst war und man sehnte sich danach, mehr zu sein. Und man wusste zugleich, dass man mehr sein konnte.
Manchmal denkst du ziemlichen Blödsinn , sagte Christophs Stimme in meinem Kopf, aber sie lächelte.
»Danke«, sagte ich laut.
»Wofür?«
»Dass wir hier sind. Es ist richtig.«
»Hast du daran gezweifelt?«
»Nein, aber …« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich wusste nur nicht, wie richtig es ist. Verstehst du?«
»Ja.« Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Von der Burg habe ich nichts gewusst, das warst du.«
Ich nickte.
Selina und Maik kamen zu uns, und wir starrten gemeinsam hinaus. Maik hatte den Gürtel von seinem Handgelenk gewickelt. Es war rot und ein wenig geschwollen.
»Und jetzt? Gehen wir rein?«, fragte Maik, was nach unserem Trip seltsam klang. Auf einem Friedhof hätte das auch niemand gefragt. Vielleicht hatte Christoph auch gerade deshalb hierhergewollt.
»Ich hab keinen Badeanzug«, sagte Selina.
»Das hat dich vorgestern auch nicht gestört.«
»Da war es dunkel, und ich hatte getrunken.«
»Wein haben wir noch.«
»Kannst du einmal ernst bleiben?« Sie schüttelte den Kopf und sah ihn abschätzig an.
Maik drehte sich wortlos um und stapfte davon.
»Der ist jetzt doch nicht beleidigt?«, fragte Selina verwirrt.
»Quatsch«, sagte ich. Beleidigt sein, das passte nicht zu ihm. Aber seit dem kurzen Gespräch in Paris wusste ich, dass man ihn verletzen konnte. Clownsschale, weicher Kern.
»Vielleicht sucht er nach einer Brücke?«, sagte Lena.
Keiner lachte.
Eine Viertelstunde später kam Maik grinsend zurück. In den Händen trug er einen zusammengepressten bunten Ballen Stoff. Von einem der Straßenstände hatte er zwei Bikinis und zwei Badeshorts geklaut.
»Ich hoffe, die Größen stimmen. Bei der Farbe konnte ich nicht wählerisch sein.«
Meine Hose war patriotisch blau-weiß-rot und passte, beide Bikinis hatten recht wenig Stoff und bunte Muster und saßen knapp.
»Das hast du doch mit Absicht gemacht«, beschuldigte ihn Selina und zerrte an ihrem Oberteil herum.
»Ich
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