Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)
würde mir hier nicht passieren, ich kannte die Wahrheit, Lena hatte uns nicht belogen. Ich schloss jeden Gedanken aus, jedes noch so kleine Fragezeichen, jeden keimenden Zweifel, und hob langsam die Waffe.
Die Bilder im Fernseher wechselten rasch, bunte Lichter schwappten ins Zimmer, die Gesichter von Christophs Eltern zeigten keine Regung, alles perlte an ihnen ab, doch sie schalteten den Kasten nicht aus, so wie sie die Vorhänge nicht zugezogen hatten, als es dunkel geworden war.
Selbst schuld , dachte ich und kniff das linke Auge zu. Mit dem rechten nahm ich Christophs Vater ins Visier. Der Kopf war groß genug, um ihn zu treffen, ich brachte Kimme, Korn und seine Nase in eine Linie. Wie ich es im Steinbruch gelernt hatte. Halbe Apfelbutzen waren viel kleiner und schwieriger zu treffen, das hier war vergleichsweise leicht.
Das Gesicht blieb reglos, wie vom Fernseher hypnotisiert.
Ich nahm die Linke zur Unterstützung, damit der Lauf nicht zitterte, und versuchte meine Atmung zu beruhigen. Mein Herz schlug wie verrückt, der Mund war ausgetrocknet.
Für Christoph.
Eins.
Für Christoph.
Zwei.
Für dich.
Drei.
…
Ich schloss die Augen und ließ die Waffe sinken. Was zur Hölle tat ich hier?
Falsche Frage. Was tust du nicht?
Vor Kurzem war es eine andere Waffe und ein anderes Haus gewesen, wie kam ich in die fast gleiche Situation?
Ich dachte an Lena, wie sie im Steinbruch mit aller Entschlossenheit gezielt und auf die verdammten Apfelbutzen geschossen hatte. Ohne zu zögern. Ich atmete durch, lockerte die Schulter und wollte die Pistole wieder in Anschlag nehmen.
Ich dachte daran, was ich bei Lenas Anblick im Steinbruch gefühlt hatte, dachte an ihre Lippen und nackten Beine und die spöttische Augenbraue. An Lena, wie sich ihr Blick beim Abschied in meinen gebohrt hatte.
Sehen wir uns demnächst?
Ich dachte an Christoph, und mein Kopf quoll wieder über. Irgendwer musste ihn doch rächen.
Warum?
Er hatte seine Eltern nicht getötet, er war nicht einmal davongelaufen.
Lena sagte: Manchmal werde ich echt nicht schlau aus dir.
Vielleicht war es wirklich nur ein zufälliger Unfall gewesen und Christophs Schuld. Was dann? Wie konnte ich da jemanden erschießen?
Er hat ihn geschlagen.
Das war kein Grund, ihn zu töten. Ich wusste nicht einmal, ob wirklich seine Mutter auf der Party angerufen hatte.
Mit einem Mal wurde mir kotzübel.
Ich zitterte wie verrückt, ließ die Waffe fallen und übergab mich mitten auf den akkurat gestutzten Rasen. Als ich den Kopf wieder hob, starrten Christophs Eltern noch immer auf den Fernseher.
Wie konnten sie noch immer regelmäßig den Rasen mähen?
Immer schön zurück zur Normalität.
Mit der Hand wischte ich mir den Mund ab und putzte sie im Gras sauber. Die Kotze stank fürchterlich. Und in diesem Moment begriff ich, dass hier etwas vollkommen falsch lief. Ich saß neben meiner Kotze, hatte das Mädchen mit der schönsten Augenbraue der Welt davonfahren lassen und starrte schon wieder in ein fremdes Fenster. Ich würde nie abdrücken, weil ich es nicht konnte, weil es Wahnsinn war. Also sollte ich auch aufhören, allein vor den Häusern von Leuten herumzulungern, denen ich irgendeine Schuld gab. Ich musste aufhören, mich im Kreis zu drehen. Das hatte Christoph gemeint, nicht das Denken an sich war das Problem.
Christoph war tot, ich lebte, und das sollte ich auch endlich wieder tun.
Jetzt!
Nein, ganz so schnell konnte ich noch nicht verschwinden. Ich griff mir die Waffe und stapfte durch den Garten nach vorn zur Haustür. Unfall, Zufall, Christophs Schuld oder nicht, er hatte ihn geschlagen, und sie hatte es zugelassen, indem sie sich nicht selbst gewehrt hatte. Irgendwas musste ich tun; irgendwer musste einfach, wenn Christoph es nicht gekonnt hatte.
Ich läutete.
Christophs Mutter öffnete die Tür, es war immer sie. Normalität.
»Ja«, sagte sie überrascht. Das Make-up auf ihrem Gesicht war dick wie immer, und sie bemühte sich um ein Lächeln. Sie hatte die Pistole in meiner Hand noch nicht bemerkt. »Das ist aber eine Überraschung, Jan. Was gibt es denn?«
»Verlassen Sie das Arschloch.« Mein Atem roch noch immer nach Kotze.
»Bitte?« Sie war völlig verdattert.
»Ich weiß, dass es eigentlich zu spät ist, aber tun Sie es trotzdem.«
»Was? Wie käme ich …«
»Sie sind nicht besser als er!«, schrie ich sie an. »Ich hoffe, er schlägt Sie tot und verrottet dann im Knast. Für Christoph.«
Ich drehte mich um und ging.
»Waffe
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