Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)
Chance hatte und mich nur zum Depp machen würde.
Es war, als hätten wir etwas zurechtgerückt, das seit der Beerdigung in Schieflage gewesen war. Als würden wir jetzt erst richtig anfangen können zu trauern, Gefühle jenseits von Schuld und Verzweiflung.
Zumindest bei den anderen hatte ich den Eindruck. Ich hatte während der endlosen stummen Stunden auf dem Roller wieder zu grübeln begonnen. Meine Gedanken kreisten um einen scheinbar belanglosen Wortwechsel, wie sie auf Partys im Dutzend vorkamen, kurze Sätze zwischen Alkohol und Musik, von denen keiner weiß, wie ernst sie gemeint sind, weil dabei im Rhythmus genickt und mit Bier gegrinst wird.
»Hey, Christoph ist gegangen«, sagte Knolle.
»Jetzt schon? Warum?«, fragte ich. »Die Party kommt doch erst in Gang.«
»Er hat einen Anruf bekommen.«
»Von wem?«
»Keine Ahnung. Ich hab ihn gefragt, ob seine Mami ruft, und er hat gesagt, ich soll die Klappe halten. Viel empfindlicher als sonst, richtig angepisst.«
»Du meinst echt, das war seine Mutter?«
»Quatsch. Warum sollte sie anrufen? Macht sie doch sonst nicht.«
Aber was, wenn diesmal doch? Er war auf dem Weg nach Hause gewesen, als er mit Gerber zusammenstieß. Natürlich hätte Christoph auch woandershin unterwegs sein können, in jedes Dorf hinter Hartingen, zu jedem Haus in Hartingen, aber eben auch auf dem Heimweg.
Und ich bekam ein Detail aus Lenas Erzählung nicht aus dem Kopf. Christophs Eltern hatten sich an jedem Silvester gestritten, an jenem Tag, an dem er sein jährliches Testament verfasst hatte, seit er zwölf war. Egal, wie er es mir gegenüber begründet hatte, er hatte immer dann an seinen Tod gedacht, wenn sie ihren heftigen Streit ausgetragen hatten. Wenn er für seine Mutter hatte stark sein müssen.
Wenn er stark war, wieso dachte er dann an seinen Tod?
Hatte sie ihn auf der Party angerufen?
Ich wollte diese Gedanken nicht, ich ertrug sie kaum, aber sie krochen einfach in meinen Kopf, während ich stumm hinten auf dem Knochenroller saß.
Ich sah Maik vor meinem geistigen Auge, verzweifelt und mit der Pistole im Mund.
Hatte auch Christoph sich schuldig gefühlt? Weil er seiner Mutter an dem Abend der Party nicht beigestanden hatte? Er war nicht daheim gewesen. War er einen Moment lang verzweifelt, weil er gedacht hatte, er hielt es nicht mehr aus?
War er … freiwillig vor Gerbers Auto gefahren?
Um zu sterben?
Nein!
Das durfte nicht sein, und doch erschien es mir mit jedem Kilometer wahrscheinlicher. Sein Vater hatte ihn in den Tod getrieben.
Er hat unglaublich viel Druck in der Arbeit.
Blödsinn! Dieses ewige Geschwätz von Druck ging mir auf den Keks. Wenn mein Job mich dazu bringt, meine Frau und meinen Sohn zu schlagen, dann kündige ich. Wenn ich das nicht tue, ist es nur eine billige Ausrede, um ein Arschloch sein zu dürfen.
Vielleicht war Christoph nur in Gedanken gewesen, völlig verwirrt und aufgewühlt? Er musste nicht freiwillig auf Gerbers Spur gekommen sein.
Vielleicht war Gerber auch ein wenig auf seine Spur gekommen, egal, was die Untersuchungen ergeben hatten.
Immer an Silvester hatte er sein Testament gemacht, hatte an seinen Tod gedacht.
Vielleicht wollte er seiner Mutter nur helfen und war in der Eile auf die Gegenspur gerutscht?
Weiter und weiter purzelten die Gedanken durch meinen Kopf, bis ich schließlich Christophs Vater die Schuld gab: Er hatte Christoph in den Tod getrieben.
Ich dachte an die Pistole, an den Moment der Stärke, als ich sie in der Hand gehalten hatte, an die Angst der Brüllaffen im Steinbruch und die der Diebe in Paris.
Du spinnst!
Ich? Nein. Wie kann ein Vater das tun?
Und ich tat genau das, was ich Christoph vorgeworfen hatte: Ich schwieg. Und wie er es mir immer vorgeworfen hatte, grub ich mich in meinen Gedanken ein, ohne mit den anderen darüber zu sprechen. Ich wusste nicht, warum ich nichts sagte, warum ich wieder alles mit mir selbst ausmachte. Vielleicht, weil ich längst entschieden hatte, was ich tun würde, und sie nicht mit reinziehen wollte. Ich war überzeugt, dass ich das Richtige vorhatte, aber ich hatte Angst, sie würden es nicht verstehen.
Bei jeder Pause stand ich kurz davor, etwas zu sagen, doch ich schwieg. Und bei unserer letzten brachte ich heimlich Maiks Pistole an mich, dazu drei Kugeln. Das sollte ausreichen. Ich steckte alles in meinen Beutel, wo Reste des Proviants und die Badehose steckten, und klemmte ihn auf den Gepäckträger. Christoph war mein bester Freund gewesen, ich
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