Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)
musste es tun. Bei Gerber hatte ich gezögert, aber diesmal würde ich nicht versagen. Unser Trip hatte mich entschlossener gemacht.
Kurz nach Sonnenuntergang hielten wir zwei Häuser von Selina entfernt, weil sie nicht wollte, dass ihre Eltern plötzlich herausplatzten. Wir stiegen alle ab und legten die Helme zur Seite. Maik gab ihr den Gürtel zurück. »Danke.«
»Selber.« Selina umarmte ihn lange. Viel mehr gab es nicht zu sagen.
Dann drückte sie mich fest an sich und vergrub ihr Gesicht an meiner Schulter. Ihr Haar roch noch immer nach dem Erdbeershampoo, das wir heute früh auf dem Campingplatz gestohlen hatten. Es roch furchtbar, aber das taten wir alle. Ich hielt sie, bis sie sich langsam löste.
»Melde dich«, sagte sie.
»Ja.« Ich sah sie an. »Brauchst du Hilfe bei deinen Eltern?«
»Nein.«
Dann standen sich die beiden Mädchen gegenüber, keine rührte sich.
»Pok! Pok! Pok!« Maik imitierte Hühnerflügel.
»Idiot.« Selina lächelte und umarmte Lena.
»Tut mir leid«, sagte Lena.
»Schon gut.« Selina löste sich, nahm ihren Beutel und ging langsam zum Haus ihrer Eltern. Sie drehte sich nicht um, und wir sahen ihr nach, bis sie durch die Tür verschwunden war.
»Das war’s dann wohl«, sagte Maik und breitete vor Lena die Arme aus. Sie umarmte ihn. Lange, wie es mir schien, sehr lange.
Dann schloss er mich in die Arme. »Merci.«
»Ich glaub, langsam haben wir das oft genug gesagt.«
»Idiot.« Er grinste schief. »Ich werde dir das nie vergessen.«
»Denk daran, wenn du wieder Blödsinn machen willst.«
»Mach ich.« Er nickte und düste davon.
Aus Selinas Haus drangen noch immer keine Schreie, wenigstens das.
»Dann bring ich dich mal heim«, sagte Lena.
Ich ließ mich von ihr nicht direkt am Haus meiner Eltern absetzen, sondern weiter am Anfang der Straße. Die Straße wirkte fremd, als wäre ich viel länger weg gewesen. Lena stieg mit mir ab.
»Ich möchte noch ein paar Schritte laufen«, erklärte ich. »Knolle und Ralph machen bestimmt Party, und ich brauch noch ein bisschen Zeit für mich allein. Bevor ich die Fragen ertrage, wo ich gewesen bin.«
»Verstehe ich. Wann kommen deine Eltern wieder?«
»In acht, neun Tagen.«
»Ist noch ein wenig hin.«
»Ja.« Das war der richtige Zeitpunkt, um zu fragen, ob wir uns in den Tagen mal sehen wollten, aber ich sagte nichts. Es war auch der richtige Zeitpunkt, um herauszufinden, wo wir nach unserer Nacht standen, aber ich fing damit nicht an, und sie auch nicht. Ich wusste nichts zu sagen und wollte mich doch nicht von ihr trennen. Ich musste, alle meine Gedanken kreisten um die Pistole und Christophs Eltern, und davon durfte ich ihr nichts sagen.
Wir umarmten uns, und ich wollte sie küssen und meine Hand auf ihren Hintern legen, tat aber nichts davon. Der Wald war weit entfernt.
»Sehen wir uns demnächst?«, fragte sie und sah mich an, ohne sich ganz zu lösen. In ihren Augen brannte es.
»Bestimmt«, sagte ich unverbindlich und dachte weiter an die schwere Pistole im Beutel auf dem Gepäckträger. Ihre Lippen waren noch immer leicht geöffnet, aber ich küsste sie noch immer nicht. Wenn ich jetzt nicht ging, würde ich es nicht schaffen, und ich schuldete es Christoph.
»Okay.« Langsam zog sich Lena zurück, die Lippen zu einem Strich geschlossen. Sie schwang sich auf den Sitz und packte den Helm. »Manchmal werde ich echt nicht schlau aus dir.«
Ich zuckte mit den Schultern und nahm meinen Beutel. »Ich auch nicht.«
Sie setzte den Helm auf und brauste davon. Ich sah ihr nach, bis das rote Licht verschwunden war. Dann machte ich mich auf den Weg zu Christophs Haus. Ich musste mich beeilen, Maik würde die Waffe bald vermissen.
Ich kauerte zwischen der Hecke und dem Busch, hinter dem sich Christoph als Kind immer verborgen hatte. Andere Verstecke gab es in dem aufgeräumten Garten kaum. In der Rechten hielt ich Maiks Pistole, der Griff klebte in meiner verschwitzten Hand. An den Blättern vorbei hatte ich gerade Sicht auf das Wohnzimmerfenster. Es war erleuchtet, der Vorhang offen, und der Fernseher lief.
Christophs Vater saß im Sessel, seine Mutter allein auf der Couch. Ihre Gesichter wirkten leblos. Auf dem kleinen Tischchen stand eine Schale mit Knabberzeug, vermutlich Chips, es waren meist Chips gewesen, wenn ich dort war. Keiner griff danach.
Ich erinnerte mich daran, wie ich vor Gerbers Tür gelauert hatte und den Molly nicht hatte werfen können. Ich hatte zu viel gezweifelt und gegrübelt. Das
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