Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)
wie immer, obwohl Mutter befürchtet hatte, es vermurkst zu haben. Sofort nahm ich mir vor, bis morgen Abend alle zwölf zu schaffen.
Ich zog mein T-Shirt aus und ging in kurzer Hose und barfuß in den Garten. Der Rasenmäher war verstummt, Vögel zwitscherten. Die Schwalben flogen hoch, der Himmel über ihnen war wolkenfrei. Das Gras war kaum noch feucht vom Tau, die Sonne hatte schon genug Kraft, um für den Mittag Hitze vorherzusagen. Badewetter.
Ich besuchte Willys Grab, was ich ewig nicht mehr gemacht hatte. Der Quarz lag fast ebenso lange nicht mehr dort, mein Vater hatte ihn weggeräumt, weil er beim Rasenmähen gestört hatte.
»Tut mir leid, alter Junge.« Ich ging in die Hocke und starrte auf die grüne Stelle zwischen den beiden Himbeersträuchern. Wenn es stimmte, dass alles, das ganze Dasein, ein Kreislauf war, dann war Willy längst zu Humus zerfallen, und die Sträucher hatten ihre Wurzeln in ihn gegraben und vielleicht winzige Teile von ihm aufgenommen, und ein Bruchteil der winzigen Teile war in die Beeren gelangt, von denen wiederum ein ordentlicher Teil auf die verschiedenen Himbeertorten der letzten Jahre gelangt war, während ich einen anderen Teil direkt gepflückt und noch ungewaschen im Freien hinuntergeschlungen hatte. Hatte ich also einen winzigen, winzigen Teil von Willy in mich aufgenommen und auch wieder ausgeschieden? Oder steckte noch immer etwas Wellensittich in mir?
Mann, denkst du einen Schwachsinn . Dabei hatte ich noch nicht einmal das angebrochene Bier geleert. Ich dachte an die großen dunklen Tannen auf dem Friedhof neben Christophs Grab und daran, dass seine Urne irgendwann vermodern und die Wurzeln nach der Asche gieren würden.
»Verdammte Tannen!«
Ich schlenderte weiter, spuckte über die hintere Mauer auf den Feldweg und ging zurück ins Haus. Es war kurz vor elf, und ich hatte noch immer zwei Wochen, elf Stück Torte und siebeneinhalb Bier vor mir.
Ich überlegte, mit einem alten Nagel eine Strichliste in die Wand zu ritzen, einen Strich für jeden Tag, so wie der Graf von Monte Christo. Während er die Tage der Gefangenschaft zählte, würde ich die der Ruhe zählen. Allerdings wäre bei vierzehn Ritzern in der Tapete die Ruhe nach Vaters Rückkehr schnell vorbei.
Es läutete. Ich zog mir das T-Shirt wieder über und stapfte in den Flur. Ungeduldig läutete es erneut.
»Ich komm ja schon!«, rief ich und riss die Tür auf.
Draußen standen Knolle und Ralph.
»Wird ja echt Zeit«, sagte Knolle.
»Warum gehst du nicht ans Handy?«, fragte Ralph.
»Weil’s irgendwo rumliegt«, verteidigte ich mich, statt zu fragen: »Was wollt ihr?«
Knolle hatte seine Sporttasche geschultert, Ralph einen Rucksack. Ich musste nicht fragen, um zu wissen, dass sie darin Kleidung für zwei Wochen, Zahnbürste, Deo und alles Nötige hatten, um sich hier einzuquartieren.
»Dann such’s mal.« Ralph drängte sich an mir vorbei ins Innere. »Du darfst auch simsen.«
»Wird cool.« Knolle nickte lässig und folgte Ralph ins Wohnzimmer.
Ich warf die Tür ins Schloss und sperrte zweimal ab, als könnte das jetzt noch etwas helfen. Sie hatten mich überrumpelt, und ich hatte es zugelassen.
Knolle war klein und machte Krafttraining, er spielte im Nachbardorf Fußball, im linken Mittelfeld mit Drang nach vorn. Er sah sich als verkappten Stürmer, die Defensive interessierte ihn nicht.
Ralph interessierte sich überhaupt nicht für Sport, er las Comics und trommelte in einer Band namens Wir sind Schurken . Ihren Stil nannten sie Kellerpunk, weil sie angeblich nicht viel konnten und im Keller des Sängers probten, nicht in der Garage.
Wir drei waren unterschiedlich, und trotzdem waren wir alle mit Christoph befreundet gewesen; wir gingen in dieselbe Klasse und zockten zusammen alles Mögliche.
Wenn einer von uns etwas mit einem Mädchen hatte oder ihre Brüste bejubeln wollte, hatte er es den anderen dreien erzählt, der eine früher, der andere später, und keiner so ausführlich wie Knolle. Wenn ich Kummer wegen eines Mädchens gehabt hatte, hatte ich es meist Christoph erzählt, und er hatte geschwiegen. Christoph konnte Geheimnisse bewahren wie kein anderer Freund. Er selbst hatte Selina gehabt und keinen Kummer.
Knolle warf seine Tasche auf den Wohnzimmerboden, schlüpfte aus den Schuhen und kickte sie durch die offene Tür zurück in den Flur. Er ließ sich rückwärts auf die Couch fallen. »Was hast du zu trinken da?«
Ralph, der Tasche und Schlappen mitten im Flur
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