Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)
Schulter, bevor sie wieder in den Garten rannte.
Bis zum Abflug meiner Familie hatte ich aufgehört, Gerber Drohbriefe zu schreiben. In der Zeitung hatte sich kein einziger Artikel zu meinen Schmierereien auf der Kühlerhaube oder den Briefen mit zertrümmerten Modellrädern gefunden. Nicht einmal im Lokalteil, der alles über den Unfall berichtet hatte, von der Verhandlung sowie den Kerzen und Kränzen, die an der Straße hinterlassen worden waren. Vielleicht gaben die Beamten keine Informationen über laufende Ermittlungen heraus, vielleicht hatte Gerber aber auch nichts davon gemeldet. Vielleicht hielt er alles für einen bösen Streich und bemitleidete sich selbst, vielleicht wusste er aber auch, dass er das alles verdient hatte, und wehrte sich deshalb nicht.
»Lass es dir gut gehen«, sagte mein Vater zum Abschied und umarmte mich.
Meine Mutter umarmte mich länger als er und flüsterte: »Pass auf dich auf. Die Torte steht im Kühlschrank. Und ich hab dir noch mal hundert Euro extra auf die Kommode gelegt, falls du dir eine Pizza kommen lassen willst.«
»Ja«, sagte ich zu beiden, auch wenn ich nicht wusste, was das für eine Monsterpizza sein sollte.
»Schade, dass du nicht mitkommst«, sagte Pia.
Ich hob sie hoch, wie ich es früher immer gemacht hatte, und drückte sie an mich.
»Grüß Mamas Hut, wenn du ihn vorbeischwimmen siehst«, sagte ich.
»Mach ich.« Sie gab mir einen Schmatz, und ich ließ sie runter.
Sie kletterte hinten ins Auto.
»Treib’s nicht zu bunt«, rief mein Vater durchs offene Fenster und zwinkerte, dann fuhren sie davon. Alle drei winkten.
Ich winkte zurück, bis sie verschwunden waren.
Ich hatte nicht vor, es bunt zu treiben. Ich würde Zombies auf dem Rechner abschlachten und vielleicht mit falscher Identität ein paar Internetforen abklappern und dort irgendwen zur Weißglut treiben, einfach so. Ich könnte für die Todesstrafe eintreten oder für Borussia Dortmund in einem Schalke-Forum oder für ein striktes Alkoholverbot in der Öffentlichkeit und separate Trinkerzimmer am Arbeitsplatz. Vielleicht.
Kaum war ich allein, tat ich erst einmal überhaupt nichts. Ich setzte mich mitten ins Wohnzimmer und lauschte auf die Stille. Niemand würde mich in den nächsten beiden Wochen stören. Ich schloss die Augen und hoffte, sie könnte den schreienden Schmerz in mir zur Ruhe bringen.
Ich atmete tief ein und wieder aus, Stille ein, Schmerz aus, Stille ein, Schmerz aus, Stille ein, und dann brummte eine fette Fliege aus dem Flur herein und patschte gegen das geschlossene Fenster. Wieder und wieder drängte sie hinaus in die Sonne.
Niemand stört mich.
Bsssss.
Pok.
Niemand stört mich.
Bsssss.
Pok.
Eine Fliege ist niemand.
Bsssss.
Pok. Pok. Pok.
Also stört mich die Fliege. q.e.d.
Genervt öffnete ich die Augen. Stille wurde sowieso überschätzt. Ich warf ein Sofakissen nach der Fliege und dachte zu spät an den Kaktus, der auf dem Fensterbrett stand. Das Kissen verfehlte Kaktus und Fliege, klatschte dumpf gegen die Scheibe und fiel zu Boden.
Bsssssss.
Pok.
»Scheiß Stille!«, schrie ich und riss das Fenster auf.
Die Fliege stürzte hinaus, irgendwer mähte in der Nähe Rasen. Ich warf den Fernseher an, das Küchenradio, die Anlage in meinem Zimmer, meinen Rechner und Vaters Laptop – das Internet war voller Geräusche – und, einfach weil ich schon dabei war, auch den Mixer und die Kaffeepadmaschine, ohne ein Pad einzulegen.
Ich war allein, niemand würde mich stören, aber auch ich störte niemanden.
»Ich kann tun, was ich will!«
Es war gerade mal zehn Uhr, zu früh für ein Bier. Trotzdem sah ich nach, wie viele Flaschen wir noch im Haus hatten. Nein, nicht wir, ich im Haus hatte. Sieben und eine halbe, die meine Mutter für ein Radler angebrochen hatte. Ich schlurfte zum Kühlschrank, an dem mit bunten Magneten eine To-do-Liste hing:
Blumen gießen
Rasen sprengen
Tante Gisela zum Geburtstag gratulieren (Donnerstag, nicht erst am Abend, da hat sie Gäste)
am Mittwoch Müll rausstellen.
Es war Montag, bis zu Tante Gisela war noch Zeit, und wahrscheinlich wäre sie froh, wenn ich es vergaß. Ich klemmte einen neuen Zettel darüber:
Bier kaufen
Im Fernseher lief nur Schrott, also schaltete ich ihn wieder aus. Weil auch das Radiogedudel in der Küche nervte, würgte ich Mutters Sender mitten in einem Hit ab. Alles, was im Radio läuft, ist ein Hit, dort ist kein Platz für einfache Songs.
Ich aß ein erstes Stück Himbeertorte, sie war lecker
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