Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)
Parfum; nicht das frische, das sie sonst benutzte.
»Verdammt«, sagte ich.
»Ja.« Mehrere Herzschläge lang hielt sie sich an mir fest, dann löste sie sich, atmete mit bebendem Unterkiefer und ging über den staubigen Kiesweg zu ihren Eltern, die zu uns herübersahen. Sie versuchte sich aufrecht zu halten, doch die Absätze ihrer schwarzen Sandalen drohten immer wieder umzuknicken, obwohl sie nicht hoch waren. Ihre Mutter nahm sie schützend in die Arme.
Die Zeremonie begann, irgendwer sprach, und ich hielt alles für Unsinn, für Floskeln, für austauschbares Gelaber. Es hatte nichts mit Christoph zu tun. Mit jedem Satz stieg meine Wut und verdrängte schließlich den Schmerz fast vollständig. Eine dumpfe Wut, die ich fest in mir verschloss, um sie nicht laut hinauszuschreien. Obwohl das Christoph wahrscheinlich gefallen hätte.
Ich wünschte mir Regen, ein Gewitter, einen Orkan herbei, der unerbittlich über uns hinwegfegen würde. Ich wollte sehen, wer dann noch blieb, durchnässt und gebeutelt. Doch der Himmel blieb blau.
Christophs Mutter stand am Grab und schluchzte unentwegt in ein weißes Taschentuch, das einen deutlichen Kontrast zu all dem Schwarz bildete. Trotz der Hitze trug sie sogar dünne Handschuhe zum Kostüm. Ihr Make-up war noch dicker aufgetragen als sonst.
Ich trauerte nicht. Trauer hatte in meiner Vorstellung etwas mit Würde zu tun, doch davon fühlte ich nichts in mir, nur Wut und Schmerz und einen blinden Hass auf alles und jeden, ich wollte irgendwas kaputt machen. Oder irgendwen. Stumm ballte ich eine Faust, bis mir der Nächste die Hand entgegenstreckte, als würde das etwas bedeuten oder bewirken.
Christophs Grab lag im Schatten der mächtigen, uralten Tannen in der hintersten Ecke des Friedhofs. Der große Grabstein bestand aus glattem schwarzem Granit, obwohl Christoph schwarz nicht besonders gemocht hatte, auch nichts, was glatt und poliert war. Ich hätte einen Stein ausgesucht, der zahllose Konturen aufwies, und ihn nur grob behauen.
Wie nannte man eigentlich Leute, die zu einer Beerdigung kommen? Besucher, Gäste, Publikum? Wie auch immer sie genannt wurden, sie drängten sich nahe um das ausgehobene Grab, und ich fragte mich, ob sie wirklich das belanglose Gelaber hören wollten oder ob sie nur im Schatten Schutz vor der Hitze suchten. Ich blieb in der brennenden Sonne stehen, der Schweiß quoll mir aus den Poren, und ich hoffte, meine Haut würde sich vom Fleisch schälen.
Ich zählte die Anwesenden, entdeckte dabei Lena ganz am Rand und vier Köpfe weiter den coolen Skater Maik, den ich noch nie hatte weinen sehen. Bis jetzt. Lenas Gesicht dagegen war vollkommen versteinert. Einhundertsechs Leute waren gekommen. Wie viele davon hatten ihn wirklich gekannt? Wer war berufsmäßig hier, wer begleitete nur einen anderen? Wer ging grundsätzlich auf jede Beerdigung im Dorf? Also trauerten nur 106 – x wirklich, wenn man all diese anderen unter der Unbekannten x zusammenfasste. Wie hoch mochte x sein? Ich presste den Gedanken aus meinem Kopf.
Als die Urne schließlich in der Erde war, steckte Christophs Mutter das Taschentuch weg und ließ die Tränen still laufen, während sie aufrecht neben dem schwarzen Grabstein stand und jede Kondolation mit einem mechanischen Händeschütteln entgegennahm. Neben ihr bewahrte sein Vater im schwarzen Anzug Haltung, die Augen gerötet, die Wangen schmal und penibel rasiert.
»Mein Beileid.«
»Danke.«
»Mein aufrechtes Beileid.«
»Danke.«
»Mein Beileid.«
»Danke.«
Wieder und wieder das Gleiche. Jedes Wort wurde gemurmelt, als wäre das besonders rücksichtsvoll oder aufrichtig, doch ich dachte nur, wie grausam es war, dass sich Eltern am Tag der Beerdigung ihres Kindes hundertvier Mal bedanken müssen. Also drückte ich Christophs Mutter stumm die Hand, damit sie nichts sagen musste. Sie sagte auch nichts und nahm mich kurz in den Arm. Danach brachte ich kein Wort mehr heraus und schüttelte auch seinem Vater stumm die Hand.
»Danke«, sagte er mechanisch mit rauer Stimme und laschem Händedruck. Dabei sah er mir stumpf in die Augen. »Danke, dass du gekommen bist.«
Natürlich , dachte ich und ging schweigend weiter.
Vom anschließenden Leichenschmaus aß ich nur drei Bissen, mehr brachte ich nicht runter.
7
Spätestens, als sich Knolle mit der offenen Weinflasche in die Dusche setzte, wusste ich, dass ich die Kontrolle über die Party verloren hatte. Sofern man etwas verlieren konnte, das man nie besessen
Weitere Kostenlose Bücher