Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)
auch zu Christophs Grab wollte, hatte sie uns gehört. Und unmöglich konnte auch sie zu Christoph wollen, das widersprach jeder Wahrscheinlichkeit, und doch …
Wenigstens ist es weder die Schwerdtfeger noch die Polizei , dachte ich erleichtert, und dann erkannte ich Lena aus dem Jahrgang unter uns. Und das verwirrte mich komplett.
Von Lena wusste ich so gut wie nichts. Vor zwei Jahren war sie aus München hergezogen und seitdem einfach da, klein, brünett und schweigsam. Oft trug sie schwarze Klamotten, aber selten etwas Auffälliges. Nur ihr ebenfalls schwarzer Motorroller fiel auf, ihm hatte sie mit Airbrush ein bleiches Knochengerüst verpassen lassen, vorne ein Brustkasten, unter dem Sitz das Becken. Es wirkte, als sähe man den Roller durch Röntgenaugen, und er wäre ein seltsames kopfloses Tier oder ein Alien. Der Roller war der einzige Grund, warum die meisten an der Schule wussten, wer sie war. Der Roller und ihr schwarzer Helm, der mit einem grinsenden Schädel verziert war.
Und diese Lena näherte sich uns nun auf schwarzen Stiefeletten mit Absätzen und in einem überraschend kurzen Rock. An den Handgelenken klimperten zahlreiche silberne Armreifen, als wäre sie wie ich von einer Party fortgelaufen oder aus einem Club. In der Hand trug sie einen großen Plastikbeutel und eine kleine Gartenschaufel.
Direkt vor Christophs Grab blieb sie stehen. Wenn sie den Blick senkte oder in die Knie ging, musste sie die Pistole sehen.
»Lena?« Maik trat hinter der Tanne hervor.
Sie schrie auf und ließ den Beutel und die Gartenschaufel fallen.
»Pst!«, zischte ich und kam ebenfalls aus dem Versteck. »Die Schwerdtfeger.«
»Was?«, stammelte sie und blickte panisch von Maik zu mir und wieder zu Maik.
»Die Schwerdtfeger.« Ich deutete vage in Richtung ihres Hauses. »Wenn die uns hört, ist hier die Hölle los.«
Verständnislos starrte sie mich an, und ich sah trotz der Dunkelheit, dass sie geschminkt war. »Was macht ihr hier?«
»Ich wollte Christoph besuchen, er hätte heute Geburtstag«, sagte ich. Im Augenwinkel bemerkte ich, wie Maik versuchte, die Pistole unauffällig mit dem Fuß zu sich zu ziehen, weg von Lenas Schuhspitze. Es war ein plumper Versuch, ich musste Lena irgendwie ablenken, und so quasselte ich weiter und weiter: »Maik, ähm … auch. Er wollte Christoph auch besuchen. Und du? Was machst du hier? Liegen hier Verwandte von dir? Ich dachte, du bist aus München?«
Hohles Gerede, schließlich war sie direkt vor Christophs Grab stehen geblieben. Dabei war sie mit ihm nicht befreundet gewesen, ich hatte sie nicht einmal miteinander reden sehen. War sie irgend so ein kranker Friedhofsfreak? Der Knochenroller, die schwarzen Klamotten – keiner wusste Genaues von ihr.
Sie war auf der Beerdigung gewesen.
Doch anstatt sie mit meinem Gestammel über Verwandte in ein Gespräch zu verstricken, erreichte ich das Gegenteil. Sie wich meinem Blick aus und tat, was sie nicht tun sollte: Sie starrte zu Boden. Jedoch nur ganz kurz, dann wurden ihre Augen groß, und sie sah mich erneut an, dann Maik. »Ist die echt …?«
»Ja«, sagte Maik ohne Umschweife und ging in die Hocke, um die Pistole an sich zu nehmen. »Gehört meinem Vater.«
Sie wich einen halben Schritt zurück. »Ist die geladen?«
»Ja.«
»Spinnst du?« Lena klang, als würde sie gleich losschreien. Ich konnte nicht erkennen, ob sie wütend war oder Angst hatte, vielleicht beides. »Willst du hier etwa rumballern? Knallt ihr irgendwelche Tiere ab?«
»Nein. Ich wollte mir in den Kopf schießen«, brummte Maik. »Aber ich hab’s nicht getan, Jan hat mich gestört. Und es wäre toll, wenn du das nicht überall rumerzählen würdest, das geht sonst niemanden etwas an. War sowieso ’ne blöde Idee.«
»Ähm, klar.« Unsicher blickte sie zwischen uns hin und her, überrumpelt von Maiks Offenheit. Vielleicht fragte sie sich auch, warum es sie etwas anging.
»Und was machst du hier?«, fragte ich noch einmal, selbst verdutzt wegen Maiks Geständnis. Dabei hob ich die Gartenschaufel auf. Selbst die war schwarz, auf dem Griff klebte noch der Preis und ein runder roter Aufkleber 30 % Rabatt. Die Tüte trug den Namenszug eines Baumarkts.
»Ich wollte mir eine Blume von Christophs Grab holen und in einen Topf pflanzen«, antwortete sie zögernd, offensichtlich angesteckt von Maiks Ehrlichkeit »Für daheim. Als Erinnerung.«
»Das ist echt schräg«, sagte Maik.
Lena hob die Augenbrauen und deutete auf die Waffe in seiner Hand.
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