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Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)

Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)

Titel: Vier Beutel Asche: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Koch
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Jan, bist du das?«, fragte Maik leise.
    »Wer denn sonst?«
    »Woher soll ich das wissen? Es ist dunkel, und du versteckst dich.«
    »Weil du auf mich zielst!«
    »Ich wusste nicht, dass du es bist.«
    »Heißt das, auf andere Leute schießt du?«
    »Quatsch! Du hast mich erschreckt.« Er klang beleidigt. »Jetzt komm schon raus.«
    Vorsichtig lugte ich hinter dem Stein hervor. Er kniete noch immer auf der Erde, hatte jedoch die Waffe sinken lassen. Auch die Schultern hingen wieder herab. Obwohl ich seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen konnte, entschied ich, ihm zu vertrauen. Wir kannten uns, es gab keinen Grund, auf mich zu schießen. Aber welchen gab es, auf sich selbst zu schießen?
    Kurz dachte ich an Jenny, die eben einen anderen auf unserer Terrasse küsste, aber so cool wie er damals am Lagerfeuer reagiert hatte, konnte es daran nicht liegen. Und bei wem hatte er sich entschuldigt?
    Sterben kann man jeden Tag.
    Vorsichtig erhob ich mich, jederzeit bereit, mich wieder hinter den Grabstein zu werfen.
    Er ließ die Pistole unten.
    Langsam ging ich zu ihm hinüber, mein Herz schlug schnell, und ich zitterte. »Was sollte das?«
    »Ich sagte doch, ich hab dich nicht erkannt.«
    »Nein. Dass du … dich selbst …« Ich konnte es nicht aussprechen und hob die ausgestreckten Zeige- und Mittelfinger an die geöffneten Lippen. Wie im Spiel, und doch bildete ich mir ein, meine Finger würden nach Eisen schmecken, dabei war es nur Erde. Kühle Graberde. Rasch ließ ich die Hand wieder sinken, als könnte ich mich damit wirklich verletzen. Die Nähe der echten Pistole machte mich nervös.
    Maik zuckte mit den Schultern. Er war so drahtig und schlaksig, dass es fast aussah wie bei einer Marionette. Mit einem Mal wirkte er furchtbar müde. »Es war mein Fahrrad, Jan. Ich hab’s ihm geliehen, obwohl er gebechert hatte. Wenn ich ihm das Rad nicht geliehen hätte, wäre er noch am Leben.«
    »Dein Rad?« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wen kümmerte das Rad? Es war Gerbers Auto gewesen, nur darauf kam es an.
    »Ich hatte ihm gesagt, dass die Batterien am Vorderlicht leer waren, aber er meinte, er fahre immer ohne. Aber es war trotzdem mein Rad.«
    Christoph noch am Leben? Daran konnte ich nicht denken, auch nicht an Räder ohne Licht, ich konnte nur auf die Pistole starren, die Maik noch immer umklammert hielt. Jederzeit konnte er sie wieder hochreißen, sie sich in den Mund rammen und abdrücken. Fast hörte ich den Knall, sah den Kopf aufplatzen.
    Nein! , dachte ich, aber ich brachte kein Wort heraus.
    »Mein Rad. Meins.« Das mein klang mit jeder Wiederholung anklagender.
    »Wenn nicht deins, dann hätte er sich ein anderes Rad genommen. Auf der Party gab es hundert Räder, und ich hätte ihm auch meins geliehen.« Natürlich hätte ich das, und bei dem Gedanken daran wurde mir ganz übel. Ich wollte nicht wissen, was ich in dem Fall getan hätte. Ich hatte keine Waffe, aber … Ich kniete mich zu Maik. »Jeder hätte ihm ein Rad geliehen.«
    Seine Wangen waren eingefallen, die Augen geschwollen, verzweifelt umklammerte er die Waffe. Sobald er wieder allein war, würde er schießen, davon war ich überzeugt. »Das weißt du nicht. Ich weiß nur, dass es meins war. Ohne Licht.«
    »Er hätte jeden nach Licht fragen können, er hätte sich ein Rad mit Licht nehmen können. Du bist selbst ohne Licht gefahren, ich oft genug auch, und Christoph dauernd. Das ändert doch nichts an Gerbers Schuld! Er hat ihn totgefahren, nicht du!«
    »Aber …«
    »Kein Aber.«
    Er sackte noch weiter zusammen, der Griff um die Pistole lockerte sich. Mit angezogenen Knien setzte ich mich neben Maik und starrte auf Christophs Grab. Der Stein wirkte in der Dunkelheit größer und schwärzer, als ich ihn von der Beerdigung in Erinnerung hatte. Eine Weile sagte keiner etwas, ich wartete. Noch immer zitterten meine Hände, und das Herz schlug zu schnell.
    »Ich dachte, heute schaffe ich’s«, sagte Maik schließlich leise.
    »Heute?« Ich schaute ihn wieder an.
    »An seinem Geburtstag. An seinem Grab. Schon zweimal hab ich’s versucht. Aber die Tabletten hab ich wieder rausgekotzt, und als ich von der Eisenbahnbrücke springen wollte, kam ewig lang kein Zug, die hatten alle Verspätung. Als dann endlich doch einer kam, tat mir der Zugführer leid. Ich habe mir vorgestellt, wie ich in Stücke gerissen werde und wie sich ein Auge von mir im Scheibenwischer verklemmt und mit all dem Blut hin und her geschoben wird, und der Zugführer muss

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