Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)
»Das sagt der Richtige.« Dabei lächelte sie und kam den halben Schritt wieder auf uns zu, den sie vorhin zwischen uns gebracht hatte. Ja, sie kam sogar noch ein Stück näher. Nun nahm ich auch ihr Parfum wahr, es roch süß und schwer.
Ich versuchte mich zu erinnern, ob Christoph Lena nicht doch einmal erwähnt hatte. Keine Ahnung, ich wusste es einfach nicht. Was, wenn er es geheim gehalten hatte? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er Selina betrogen hatte, aber zum ersten Mal konnte ich mir vorstellen, dass jemand etwas von Lena wollte, von dieser Lena, nicht von der aus der Schule. Auch konnte ich mir gut vorstellen, dass diese Lena selbst etwas wollte, und dass sie es auch bekam.
Grabblumen als Erinnerung.
Wir standen dicht beieinander und hatten leise gesprochen, und das nicht nur aus Angst vor der Schwerdtfeger. Ohne uns richtig zu kennen, waren wir uns in diesem Moment nah.
In Maiks Blick lag noch immer etwas Gehetztes, ich konnte seinen Schweiß riechen, und doch kämpfte sich das typische schiefe Grinsen auf seine Lippen. »Schräg sein ist nichts Verkehrtes.«
»Da bin ich aber beruhigt.« Lenas rote Lippen lächelten spöttisch.
Ich atmete ihr Parfum ein, um Maiks Schweiß zu überdecken, und spielte nervös mit der Gartenschaufel in meinen Händen.
Christophs Tod hatte uns aus der Bahn geworfen, und dass wir uns hier getroffen hatten, verband uns auf seltsame Art. Auch andere hatten ihn verloren, aber wir waren diejenigen, die nachts kamen, wenn der Friedhof geschlossen war und die Welt im Dunkel lag. Getrieben von Schuldgefühlen oder Sehnsucht oder dem Gefühl, das alles falsch lief.
Gescheiterte.
Gescheitert am Selbstmord, bei der Rache an Gerber, beim Blumenstehlen. Gescheitert an der Rückkehr zur Normalität.
Ich fühlte mich weniger allein. Seine Eltern, seine Freundin Selina und alle anderen waren stets tagsüber gekommen, ich nicht. Ich hatte niemanden treffen wollen, nicht noch einmal die Beerdigungsfloskeln austauschen. Ich wollte nicht beobachtet werden.
Er hätte nicht gewollt, dass wir aufhören zu feiern .
Mit jedem Atemzug hasste ich die Party in meinem Haus mehr. Knolle und Ralph konnten mich mal, und vielleicht erstickte Kev ja an seiner Kotze, wenn er so weitersoff, und dann konnte er im Jenseits prahlen, das habe er für einen Freund getan.
Falls es ein Jenseits gab.
Weiterfeiern!
Zurück zur Normalität!
Es musste etwas anderes geben, etwas, das darüber hinausging. Dass wir drei uns getroffen hatten, war der Beweis, dass es mehr gab. Oder zumindest die Sehnsucht danach.
Wenn nicht zurück, wohin sollten wir dann?
»Ich sag euch was …«, setzte Maik an, doch er kam nicht weit.
Vom Eingangstor näherten sich eilige Schritte, wieder die eines einzelnen Menschen.
»Das kann doch nicht wahr sein«, entfuhr es mir. »Wenn mir demnächst einer kommt mit still wie auf einem Friedhof , dann …«
Lena kicherte.
Der Kirchturm schlug Mitternacht.
Diesmal versteckten wir uns nicht, wir blieben einfach stehen und warteten, immerhin waren wir zu dritt. Ich drückte Lena die Schaufel in die Hand. Die Pistole verbarg Maik in der Bauchtasche seines Hoodys. Völlig unzusammenhängend dachte ich: Das Känguru gebärt den Tod. Das Bier schien doch noch im Hirn angekommen zu sein.
Wer auch immer dort kam – ein Nachbar, Bulle oder Satanist, der kleine Emo aus der Siedlung, ein morbider Liebeskranker, ein Grabräuber, der Küster, der Pfarrer selbst oder doch die alte Schwerdtfeger –, war allein. Ich rechnete mit jedem und niemand bestimmten, und dann erkannte ich Selina und wurde schon wieder überrascht.
10
Von Selina wusste ich, dass sie Klavier spielte, von französischen Filmen schwärmte und amerikanische Serien schaute, dass sie fotografierte und dabei ein Faible für das Motiv Müll mit Blume oder Blume mit Müll hatte, weshalb sich Christoph immer wehrte, wenn er mit ihr zusammen auf ein Bild sollte: »Ja, ja, Blume und Müll, schon klar, wer ich bin.«
Sie hatte gelacht, und Christoph hatte mitgemacht. Wäre sie nicht mit Christoph zusammen gewesen, hätte ich mich in sie verlieben können.
In der fünften und sechsten Klasse war Selina hübsch und ziemlich klein gewesen, hochnäsig und vorlaut. Mir ging sie auf die Nerven, sie erinnerte mich an ein blondes Prinzesschen. Und wenn ich verstohlen Mädchen anstarrte, dann die, denen die Brüste deutlicher wuchsen.
In der Siebten trennten sich unsere Wege, sie wählte den neusprachlichen Zweig, ich – wie
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