Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)
Christoph – den mathematisch-naturwissenschaftlichen. Auch wenn unsere Schule riesig war, das Gymnasium und die Realschule in einem Gebäude, die Hauptschule gleich nebenan, insgesamt über zweitausend Schüler aus dem Umkreis von zwanzig Kilometern, sah ich sie in den folgenden Jahren doch manchmal auf dem gemeinsamen Pausenhof. Sie schoss plötzlich in die Höhe, auch ihre Brüste wuchsen, und aus ihrem hübschen Gesicht wurde ein schönes. Manche sagten, ihre Nase sei zu groß, aber das waren blinde Dummschwätzer.
Wer über ihre Nase mosert, ist bei ihr abgeblitzt , dachte ich. Ich moserte nicht, verliebte mich aber immer in andere Mädchen.
Auf einem GrubeNRock-Festival in der alten Kiesgrube, auf dem Bands aus der weiteren Umgebung spielten und Jugendliche aus der näheren Umgebung Spaß hatten, sah ich, wie sie tanzte. Sie tanzte allein, nicht wie so viele Mädchen mit einer oder mehr Freundinnen im Pulk. Sie tanzte ungeschützt und ausgelassen und wild, ihr langes Haar flog im letzten Licht der Dämmerung und schien zu brennen, ihre Augen waren geschlossen. Sie sah sich nicht danach um, wer ihr zusah, sondern bewegte sich zu gecoverten Melodien, die unglücklich verzerrt aus den Boxen schepperten. Sie hörte die Musik, nicht die Fehler, nicht das Feedback, nicht den Lärm. Vielleicht musste sie die Augen auch nicht öffnen, um zu wissen, dass ihr alle zusahen. Und als alle der Band applaudierten und johlten und pfiffen, da jubelte ich mit und meinte Selina.
Es wurde dunkel, sie hörte auf zu tanzen, und ich verlor sie aus den Augen. Ich alberte mit Knolle und Ralph herum, wir versuchten, Kieselsteinchen in die Getränke der Leute zu werfen, die an uns vorbeiliefen. Ich war überdreht und hoffte, irgendwann würde auch Selina vorbeikommen, auch wenn ich dann natürlich nicht geworfen hätte.
Oder gerade dann.
Sie tanzte nicht wieder, inzwischen hüpften Dutzende vor der Bühne auf und ab, aber das ließ mich kalt. Auch die Band, die nun spielte.
»Ich geh mal Christoph suchen«, sagte ich und erhob mich, um Selina zu finden. Das Bier, die milde Nacht und ihr Anblick hatten mich mutig gemacht. Wenn sie vor allen ohne den Schutz ihrer Freundinnen tanzen konnte, konnte ich sie auch allein ansprechen. Was konnte schon schiefgehen?
»Christoph gräbt irgendein Mädel an«, rief mir Ralph hinterher. »Stör da mal nicht.«
»Dann schau ich, ob sie ’ne Freundin hat«, rief ich zurück.
Knolle grölte: »Ah, Reste abgreifen.«
Ralph lachte.
»Arsch!« Ich lachte auch.
Es dauerte eine Viertelstunde, bis ich Selina fand, und sie war allein. Glück musste man haben. Sie saß abseits der Feiernden auf der schrägen Grubenwand und starrte zur Band hinüber. Die Arme hatte sie um die angezogenen Beine geschlungen, als würde sie in ihrem Top frieren.
Warum habe ich keine Jacke dabei? , dachte ich. Mein verschwitztes T-Shirt konnte ich ihr schlecht anbieten. Langsam stieg ich die paar Schritte zu ihr hinauf, der grobe Kies unter meinen Sohlen rutschte knirschend weg.
»Hey, Selina«, rief ich über die Musik hinweg.
»Hi, Jan.« Sie kniff ein Auge zusammen und lächelte. Sie schien glücklich und wusste, wer ich war.
Ich lächelte auch und war auch glücklich. So glücklich und optimistisch, dass ich gleich in die Offensive ging. Ich ging vor ihr auf die Knie und beugte mich vor, das Gesicht ganz nah an ihres, vorgeblich, um nicht brüllen zu müssen. »Du solltest Tänzerin werden.«
»Ach ja?« Ihr Lächeln wurde schelmisch. »Und da bist du ganz allein draufgekommen?«
»Äh, allein? Klar.« Ich zwinkerte irritiert. Mit allem Möglichen hatte ich gerechnet, aber nicht damit. »Ich hab dich tanzen sehen.«
»Wirklich?«
»Ja.« War es seltsam, das zuzugeben? Freakig? Ich hatte bewusst nicht beobachtet gesagt, weil das nach sabberndem Gammelfleisch klang.
»Das ist kein Scherz von Christoph, den er dir eingeflüstert hat?«, fragte sie.
»Christoph? Wieso Christoph?«
»Du bist doch sein Freund, oder?«
»Ja, aber ich kann allein entscheiden, wer wunderschön tanzt!« Ohne die Verärgerung hätte ich das wunderschön nicht so leicht über die Lippen gebracht. Natürlich war ich Christophs bester Freund, aber ich war nicht sein Echo oder sein Zwilling.
»Dann hat Christoph dir nichts gesagt?« Selina wirkte fast beklommen.
»Ich hab eigene Augen. Und ein eigenes Hirn.« Fast hätte ich noch ein eigenes Herz hinzugefügt, aber so betrunken war ich noch nicht.
»Das meine ich nicht. Ich meine
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