Vier Jungs auf einem Foto (German Edition)
Anfang ist es wie eine Blaupause dessen, was sie all die anderen Male gesehen haben. Der Rasen ist ein Kraterfeld, der Ball vollzieht willkürliche Flugbahnen, wird blind nach vorne gedroschen, und alle hinterher: ein Attentat auf den guten Geschmack. Neu, anders, beunruhigend ist nur, dass Pittilanga letzter Mann ist, sich immer auf Höhe des eigenen Strafraums aufhält. Nach minutenlangem Geplänkel im Mittelfeld spielt die Heimmannschaft plötzlich einen Steilpass auf ihren Mittelstürmer. Er ist klein und wendig. Fernando weiß, dass Pittilanga, dieser tapsige Bär, ihm nie und nimmer wird folgen können. Als der Stürmer den Ball unter Kontrolle bringt, mit dem Rücken zum Tor, senst Pittilanga ihn um.
»Jetzt guck dir das an: einmal am Ball, und schon gibt’s Freistoß«, sagt Fernando, oder murmelt es vielmehr, schließlich müssen die anderen auf der Tribüne nicht unbedingt mitkriegen, dass sie für die Gastmannschaft sind.
»Hm«, brummt Ruso nur.
Fernando sieht zu Bermúdez, der mit verschränkten Armen an der Seitenlinie steht. Er hat seinem neuen Innenverteidiger keine Vorwürfe gemacht, wirkt nicht beunruhigt.
»Bermúdez weiß Bescheid?«
»Hm.«
»Ist das alles, was du zu sagen hast? Hm?«
»Abwarten«, sagt Ruso erneut, während er gedankenverloren an seinen Fingernägeln kaut und das Spiel betrachtet.
Zum Glück geht der Freistoß drüber. Pittilanga entfernt sich wie die anderen vom Strafraum. Weil die Heimmannschaft ein bisschen besser ist oder zumindest ehrgeiziger, greift sie immer stürmischer an, mit immer mehr Mann. Atlético Mitre hingegen zieht sich immer weiter zurück. Doch im Gegensatz zu den sechzehn Spielen, die Fernando bisher gesehen hat, fängt Mitre sich nicht gleich in den ersten Minuten ein Tor. Und auch wenn es ihm schwerfällt, es zuzugeben: Der Hauptverantwortliche dafür ist kein Geringerer als Mario Juan Bautista Pittilanga. Seit seinem Anfängerfehler, der ihm in der fünften Minute eine gelbe Karte eingebracht hat, findet er sich immer besser zurecht, entschärft Flanken, unterbindet Dribblings, erstickt Vorstöße im Keim.
Natürlich ist er immer noch der limitierte Klotz, den Fernando kennt, bringt keinen vernünftigen Pass zustande, aber das macht nichts. Seine Verteidigerkollegen haben sich schnell daran gewöhnt, dass er die Drecksarbeit erledigt, dass er grätscht und die Angriffe stoppt. Sie unterstützen ihn dabei, den Ball aus der Gefahrenzone zu bringen. Erstaunt stellt Fernando fest, dass der Torwart ihm sogar Beifall spendet und dass auch seine Mitspieler ihm aufmunternde Worte zurufen.
Fernando dreht sich zu Ruso um. »Wieso wusstest du davon?«
Ruso gibt ihm mit einer Geste zu verstehen, dass er nicht gestört werden will, und deutet auf die Kamera, die Fernando vor lauter Verblüffung nicht eingeschaltet hat. »Jetzt film endlich. Um den Rest kümmert sich schon Ruso.«
»Rück endlich raus mit der Sprache!«
Ruso sieht weiterhin ungerührt zum Spielfeld.
»Um es kurz zu machen«, sagt er schließlich in einem Ton, als musste er erst lange in sich gehen. »Ich hab mit ihm gesprochen. War nicht einfach. Ich musste ihn regelrecht bequatschen. Weißt du, mit welchem Argument ich ihn am Ende überzeugt habe?«
»Du wirst es mir sicher gleich sagen.«
»Mit dem Scharniervergleich.«
»Was?«
»Ist ganz einfach: Ob man Angreifer oder Verteidiger spielt, ist, wie eine Tür in die Scharniere oder aus den Scharnieren zu heben.«
»Ich versteh nur Bahnhof.«
»Deswegen bin ja ich auch Unternehmer und du nur Lehrer, mein Lieber.«
»Ich versteh wirklich nur Bahnhof.«
»Hast du schon mal eine Tür ausgehängt?«
»Klar.«
»Gut. Und hast du auch schon mal eine eingehängt?«
»Ja.«
»Eine Tür in die drei Scharniere hineinzuheben ist tausendmal schwieriger, als sie aus den drei Scharnieren herauszuheben. Hab ich Recht?« Ruso legt eine Kunstpause ein. »Beim Fußball ist es genauso. Als Verteidiger hängt man die Tür aus, und als Angreifer hängt man sie ein.«
Fernando überprüft, ob die Kamera scharf gestellt und der Akku voll ist. »Weißt du was, Ruso?«
»Was?«
»Ich weiß manchmal nicht, ob du ein Genie bist, obwohl du nur Stroh im Kopf hast, oder ob selbst das Stroh in deinem Kopf nicht verhindern kann, dass ab und zu so etwas wie Genie aufblitzt.«
Ruso dreht sich um und sieht ihn an. »Dass ich schlicht ein Genie sein könnte, ist dir wohl noch nie in den Sinn gekommen?«
Fernando grinst. Am liebsten würde er Ruso umarmen,
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