Vier minus drei
mit dem Tod geliebter Menschen.
Liebe Frau Barbara!
Ich möchte mich gern bei Ihnen bedanken, da Sie mir, in Ihrem großen Schmerz, geholfen haben, über meinen Schmerz nach 30 Jahren hinwegzukommen – durch die Tagebucheintragung über Valentinas Tod. Auch ich hatte Gedanken wie Sie. Mein Sohn war 6 Jahre alt, er war nur kurz krank, aber wir wussten, es gibt eigentlich keine Rettung. Zwei Tage betete ich: »Lieber Gott, lass ihn wieder gesund werden.« Aber als es ihm immer schlechter ging und sein »Leben« eigentlich nur mehr qualvoll war, betete ich: »Lieber Gott, lass ihn einschlafen, Dein Wille geschehe.«
Ich hatte immer irgendwie ein schlechtes Gewissen, dass man als Mutter »so« beten kann. Sie haben mir jetzt gezeigt, dass es doch richtig war. Eines weiß ich ganz gewiss, ohne Glauben hätte ich das alles nicht so gut verarbeitet. Gott weiß immer, was er uns zu-»mut«-en kann, irgendwann erkennen wir seinen Willen.
Ich wünsche Ihnen Gottes Segen und viel Kraft für Ihr weiteres Leben.
Behutsam lege ich den Brief wieder auf seinen Stapel. Die Kerzen auf meinem Schreibtisch flackern unverändert hell, und doch muss ich das Licht aufdrehen. Es ist Abend geworden. Zeit, die vielen Bögen wieder in ihrer Schachtel zu verstauen und ihnen eine gute Nacht zu wünschen.
Beim Zusammenräumen fällt mein Blick doch noch auf ein letztes Blatt, das auf keinem der Stapel Platz gefunden hat. Zwei ausgedruckte Mails auf einer Seite:
Von: Walter Pachl
Gesendet: Montag, 7. April 2008
Betreff: Wunsch meiner Tochter
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich bin der Vater von Barbara Pachl-Eberhart, die bei dem Unfall in Takern II am Gründonnerstag Ehemann und beide Kinder verloren hat.
Meine Tochter würde gern mit dem Fahrer des Zuges sprechen – keineswegs um ihm Vorwürfe zu machen, sondern eher, um ihn zu trösten.
Ich weiß nicht, ob Sie so ein Gespräch vermitteln können.
MfG,
Walter Pachl
An: Walter Pachl
Gesendet: Mittwoch, 9. April 2008
Betreff: AW: Wunsch meiner Tochter
Sehr geehrter Herr Pachl,
wir nehmen großen Anteil an Ihrem schweren Schicksalsschlag. Ein aufrichtiges Beileid an Ihre Tochter sowie an alle Angehörigen.
Der betroffene Mitarbeiter ist aufgrund des tragischen Vorfalles in therapeutischer Behandlung. Aus Sicht des zuständigen Therapeuten ist eine Kontaktaufnahme mit Angehörigen der Unfallopfer nicht zumutbar.
Wir hoffen auf Ihr Verständnis und verbleiben
mit freundlichen Grüßen.
…
Es war damals nicht einfach für mich, die Antwort der Transportgesellschaft hinzunehmen. Ich verspürte den dringenden Impuls, dem Zugführer Trost zu spenden oder ihm zumindest zu versichern, dass ich keinerlei Vorwurf an ihn richte.
Meiner Meinung nach war er genauso wie ich Opfer einer schrecklichen Konstellation von Umständen. Ich hoffte so sehr, dass meine Worte ihm helfen könnten. Umso mehr enttäuschte und entsetzte es mich, dass ich diesem armen Mann nach Meinung seines Therapeuten nicht zumutbar sein sollte.
Warum war ich so getroffen? Glaubte ich etwa, ein Recht darauf zu haben, den Zugführer zu trösten? Meinte ich, dass mein Trost wirklich nötig und hilfreich war?
War es nicht vielmehr ich, die sich damit einen Wunsch erfüllen wollte, den Wunsch, wenigstens einem Menschen aktiv helfen zu können, wo ich doch selbst so sehr von der Hilfe anderer abhängig war?
Möglicherweise. Vermutlich wollte ich das Gefühl haben, helfen zu können. Und genauso wie ich viele Anrufe von Menschen, die mit mir sprechen wollten, um mich zu trösten, nicht annahm, wurde nun ich in meinem Bedürfnis, Trost zu spenden, zurückgewiesen.
Man braucht den Trost, den andere schenken wollen, nicht immer. Gerade ich musste das doch am besten wissen.
Ein kleiner Stachel bohrt dabei in mir: Es war offenbar der Therapeut des Lokführers, der über mein Ansinnen entschied, und nicht der Betroffene selbst.
Macht das einen Unterschied? Für mich schon. Ich habe bis heute nicht aufgehört, darüber nachzudenken, wie es dem Fahrer des Unglückszuges wohl gehen mag. Es scheint mir, als ob uns ein magisches Band verbindet. Zwei Opfer ein und desselben Unfalls, beide am Leben und unverletzt, beide für immer geprägt von dem, was geschah.
Ich habe oft darüber nachgedacht, welches Schicksal mir schwerer erscheint: seine Familie zu verlieren oder jemanden, wenn auch schuldlos, bei einem Verkehrsunfall zu töten. Vermutlich wird diese Frage für mich ohne Antwort bleiben.
Ich vermute,
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