Vier moralische Schriften
Verurteilung aller nicht zum Standard gehörigen Sexualgewohnheiten, von der Keuschheit bis zur Homosexuali-tät). Da aber auch Sexualität ein schwieriges Spiel ist, neigt der urfaschistische Held zum Spiel mit Waffen, die dann sein Phallusersatz werden.
13. Ur-Faschismus beruht auf einem selektiven oder qualitativen Populismus. In Demokratien haben die Bürger individuelle Rechte, aber politischen Einfluß können sie nur gemeinsam unter einem quantitativen Gesichtspunkt ausüben – die Mehrheit entscheidet. Für den Ur-Faschismus dagegen haben Individuen als Individuen keinerlei Rechte, während das »Volksganze« als eine Qualität begriffen wird, eine monolithische Entität, die den gemeinsamen Willen aller zum Ausdruck bringt. Da jedoch eine große Zahl von Menschen keinen gemeinsamen Willen haben kann, wirft sich der Führer zu ihrem Interpreten auf. Nachdem sie ihre Delegationsmacht verloren haben, handeln die Bürger nicht mehr; sie werden nur noch von Zeit zu Zeit pars pro toto zusammengerufen, um die Rolle des Volkes zu spielen. Das Volk ist also nur eine Theaterfiktion. Um ein gutes Beispiel für qualitativen Populismus zu haben, brauchen wir nicht mehr die Piazza Venezia in Rom (wo Mussolini seine Reden »ans Volk«
hielt) oder das Nürnberger Reichsparteitagsgelände zu bemühen.
In unserer Zukunft bietet sich ein TV- oder Internet-Populismus an, bei dem die emotionale Antwort einer Gruppe ausgewählter Bürger als »Stimme des Volkes« präsentiert und akzeptiert werden kann.
Aufgrund seines qualitativen Populismus muß sich der Ur-Faschismus gegen die » verrotteten « parlamentarischen Regime stellen. Einer der ersten Sätze, die Mussolini im italienischen Parlament sagte, war:
»Ich hätte diesen trüben grauen Ort in einen Biwak für meine 38
Manipel verwandeln können« – Manipel waren Unterabteilungen der römischen Legionen. Tatsächlich fand Mussolini gleich darauf bessere Unterkünfte für seine Manipel, aber das Parlament löste er dann trotzdem auf. Wann immer ein Politiker die Legitimität des Parlaments in Zweifel zieht, weil es nicht mehr die »Stimme des Volkes« repräsentiere, riecht es nach Ur-Faschismus.
14. Der Ur-Faschismus spricht Newspeak. Orwell hatte Newspeak in 1984 als offizielle Sprache des »Ingsoc« oder Englischen Sozialismus erfunden, aber Elemente des Ur-Faschismus sind verschiedenen Formen von Diktatur gemeinsam. Alle nazistischen oder faschistischen Schulbücher bedienten sich eines verarmten Vokabulars und einer versimpel-ten Syntax, um die Mittel zu komplexem und kritischem Denken zu begrenzen. Aber wir müssen uns bereit halten, auch andere Formen von Newspeak zu identifizieren, selbst wenn sie die unschuldige Form einer populären Talkshow annehmen.
Nachdem ich die möglichen Archetypen des Ur-Faschismus skizziert habe, sei es mir erlaubt, noch einmal auf meine Kindheit zurückzukommen. Am Morgen des 27. Juli 1943
hörten wir im Radio, daß der Faschismus zusammengebrochen und Mussolini verhaftet worden sei. Meine Mutter schickte mich zum Zeitungholen. Ich ging zum nächsten Kiosk und sah, daß die Zeitungen andere Namen hatten. Mehr noch, nach einem kurzen Blick auf die Schlagzeilen machte ich mir bewußt, daß jede Zeitung etwas anderes sagte. Ich kaufte aufs Geratewohl eine und las auf der ersten Seite eine Erklärung, die von fünf oder sechs politischen Parteien unterzeichnet war, die Namen wie Democrazia Cristiana, Partito Comunista, Partito Socialista, Partito d’Azione und Partito Liberale trugen. Bis zu jenem Moment hatte ich geglaubt, daß es in jedem Land nur eine Partei
gab und in Italien eben diejenige namens Partito Nazionale Fascista. Ich entdeckte, daß es in meinem Land mehrere verschiedene Parteien gleichzeitig geben konnte. Und da ich ein 39
heller Junge war, sagte ich mir sofort, daß diese Parteien unmöglich über Nacht entstanden sein konnten. Ich begriff, daß sie bereits als Untergrundorganisationen existiert hatten.
Die Erklärung auf der Titelseite feierte das Ende der Diktatur und die Rückkehr der Freiheit: Freiheit der Rede, der Presse, der politischen Vereinigung. Diese Worte, »Freiheit«, »Diktatur« –
mein Gott! –, es war das erste Mal in meinem Leben, daß ich sie las. Durch die Kraft dieser Worte wurde ich neu geboren als freier westlicher Mensch.
Wir müssen wachsam bleiben, damit der Sinn dieser Worte nicht wieder in Vergessenheit gerät. Der Ur-Faschismus ist immer noch um uns, manchmal in
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