Vier moralische Schriften
nicht um eine vage senti-mentale Neigung, sondern um eine im Wortsinn »grundlegende«
Bedingung. Wie uns auch die weltlichsten unter den Humanwis-senschaften lehren, ist es der andere, der Blick des anderen, der uns definiert und formt. Ohne den Blick und die Antwort des anderen können wir nicht begreifen, wer wir sind (so wie wir nicht leben können, ohne zu essen und zu schlafen). Selbst wer andere tötet, vergewaltigt, beraubt, verletzt, tut das nur in Momenten der Ausnahme, und den Rest seines Lebens verbringt er damit, von seinesgleichen Anerkennung, Liebe, Achtung und Lob zu erbetteln. Sogar von denen, die er demütigt, verlangt er die Anerkennung der Angst und der Unterwerfung. Ohne den anerkennenden Blick eines anderen kann das Neugeborene, das im Wald ausgesetzt wird, nicht zu einem Menschen werden (oder es sucht den anderen, wie Tarzan, im Gesicht eines Affen), und wir würden sterben oder verrückt werden, wenn wir in einer Gemeinschaft leben müßten, in der ausnahmslos alle beschlossen hätten, uns nie anzusehen und sich so zu benehmen, als ob 46
wir nicht existierten.
Wieso gibt oder gab es dann aber Kulturen, die das Massaker, den Kannibalismus, die Erniedrigung des Körpers anderer billigen? Einfach weil diese Kulturen den Begriff der zu respektierenden anderen auf die Angehörigen des eigenen Stammes oder Volkes reduzieren und die nicht dazugehörenden
»Barbaren« als nichtmenschliche Wesen betrachten (aber auch die Kreuzfahrer empfanden ja die Ungläubigen nicht als Nächste, die man besonders lieben mußte). Die Anerkennung der Rolle der anderen, die Notwendigkeit, bei den anderen jene Ansprüche zu respektieren, die wir als unverzichtbar für uns selbst erachten, ist das Ergebnis eines jahrtausendelangen Lernprozesses.
Auch das christliche Liebesgebot wurde erst ausgesprochen (und nur höchst widerstrebend angenommen), als die Zeit dafür reif war.
Sie werden mich fragen, ob dieses Bewußtsein von der Bedeutung des anderen genügt, um mir eine absolute Basis, eine unverrückbare Grundlage für ein ethisches Verhalten zu geben.
Ich könnte Ihnen darauf antworten, daß auch jene Grundlagen, die Sie als »absolut« definieren, viele Gläubige nicht daran hindern, zu sündigen im Wissen, daß sie sündigen, und damit wäre unser Gespräch zu Ende. Die Versuchung des Bösen ist auch in denen gegenwärtig, die einen transzendentalen Begriff des Guten haben. Aber ich möchte Ihnen zwei Anekdoten
erzählen, die mir sehr zu denken gegeben haben.
Die erste betrifft einen Schriftsteller, der sich katholisch nennt, wenn auch sui generis, und dessen Namen ich nur deshalb nicht nenne, weil er mir das, was ich zitieren werde, in einem privaten Gespräch gesagt hat, und ich bin kein Denunziant. Es war zur Zeit von Johannes XXIII., und während mein alter Freund enthusiastisch von seinen Tugenden sprach, sagte er (in offensichtlich paradoxaler Absicht): »Papst Johannes muß atheistisch sein. Nur wer nicht an Gott glaubt, kann seinesgleichen so 47
lieben!« Wie jedes Paradox enthielt auch dieses einen wahren Kern: Ich denke nicht an den Atheisten (eine Figur, die sich mir psychologisch entzieht, denn ich kann gut kantianisch nicht verstehen, wie man nicht an Gott glauben und der Meinung sein kann, daß seine Existenz nicht zubeweisen ist, um dann fest an die Inexistenz Gottes zu glauben in der Meinung, sie sei beweisbar), aber es scheint mir doch evident, daß jemand, der nie die Erfahrung der Transzendenz gemacht oder sie verloren hat, seinem Leben und seinem Tod einen Sinn nur geben und sich nur getröstet fühlen kann durch die Liebe zu anderen, durch den Versuch, jemand anderem ein lebenswertes Leben zu
garantieren, auch wenn er selbst nicht mehr da ist. Gewiß gibt es auch solche, die nicht gläubig sind und sich dennoch nicht darum kümmern, dem eigenen Tod einen Sinn zu geben, aber es gibt auch solche, die sich gläubig nennen und dennoch bereit wären, einem lebenden Kind das Herz aus dem Leibe zu reißen, um nicht sterben zu müssen. Die Stärke einer Ethik bemißt sich am Verhalten der Heiligen, nicht am Verhalten derer, »deren Gott ihr Bauch ist«.
Damit komme ich zu meiner zweiten Anekdote. Ich war noch ein junger, sechzehnjähriger Katholik und hatte mich auf ein Streitgespräch mit einem älteren Bekannten eingelassen, der als
»Kommunist« bekannt war in dem Sinne, den dieser Begriff in den schrecklichen fünfziger Jahren hatte. Und da er mich reizte, stellte ich ihm die
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