Vier moralische Schriften
subalterner gesellschaftlicher Gruppen fürchteten. Heute, da die einstigen »Proletarier« Kleinbürger werden (und die
»Lumpenproletarier« sich vom politischen Leben selbst aus-schließen), wird der Faschismus sein Publikum in dieser neuen 35
Mehrheit finden.
7. Denen, die jeder gesellschaftlichen Identität beraubt sind, sagt der Ur-Faschismus, daß ihr einziges Privileg das allgemein-ste von allen ist, nämlich im selben Lande geboren zu sein. Das ist der Ursprung des »Nationalismus«. Zudem sind die einzigen, die der Nation eine Identität geben können, ihre Feinde. Daher liegt an der Wurzel der urfaschistischen Psychologie die Obsession einer Verschwörung, nach Möglichkeit einer internationalen. Die Anhänger müssen sich belagert fühlen. Am einfachsten läßt sich eine Verschwörung durch einen Appell an die Fremdenfeindlichkeit hervorzaubern. Allerdings muß die Verschwörung auch von innen kommen; daher sind die Juden gewöhnlich das beste Ziel, da sie den Vorteil bieten, gleichzeitig innen und außen zu sein.
8. Die Anhänger müssen sich vom offen gezeigten Reichtum und der Stärke ihrer Feinde gedemütigt fühlen. Als ich ein Junge war, lehrte man mich, die Engländer seien das »Volk der fünf Mahlzeiten«, weil sie öfter aßen als die armen, aber nüchternen Italiener. Die Juden gelten als reich und helfen einander durch ein geheimes Unterstützungsnetz. Die Anhänger müssen jedoch auch überzeugt sein, daß sie die Feinde besiegen können. So kommt es, daß die Feinde durch eine ständige Verlagerung des rhetorischen Brennpunkts gleichzeitig zu stark und zu schwach sind. Die Faschismen sind dazu verurteilt, ihre Kriege zu verlieren, weil sie konstitutionell unfähig sind, die Stärke des Feindes richtig einzuschätzen.
9. Für den Ur-Faschismus gibt es keinen Kampf ums Überleben, sondern eher ein »Leben für den Kampf«. Daher ist Pazifismus Kollaboration mit dem Feind. Pazifismus ist schlecht, weil das Leben ein permanenter Krieg ist. Das erzeugt jedoch einen Armageddon-Komplex. Da die Feinde besiegt werden müssen und können, muß es einen Endkampf geben, nach dem die Bewegung die Weltherrschaft antreten wird. Eine solche »Endlösung« impliziert jedoch eine anschließende Zeit 36
des Friedens, ein Goldenes Zeitalter, das im Widerspruch zum Prinzip des permanenten Krieges steht. Keinem faschistischen Führer ist es jemals gelungen, diesen Widerspruch aufzulösen.
10. Elitedenken ist ein typischer Aspekt jeder reaktionären Ideologie, insofern es seinem Wesen nach aristokratisch ist, und jedes aristokratische und militaristische Elitedenken impliziert die Verachtung der Schwachen. Der Ur-Faschismus kann nur ein »völkisches Elitedenken« predigen: Jeder Bürger gehört zum besten Volk der Welt, die Parteimitglieder sind die besten Bürger, und jeder Bürger kann (oder sollte) Parteimitglied werden. Doch keine Patrizier ohne Plebejer. Da der Führer weiß, daß er die Macht nicht demokratisch verliehen bekommen, sondern gewaltsam an sich gerissen hat, weiß er auch, daß seine Stärke auf der Schwäche der Massen beruht – sie sind so schwach, daß sie einen Herrscher brauchen und verdienen. Da die Bewegung hierarchisch organisiert ist (nach militärischem Vorbild), verachtet jeder Unterführer die eigenen Untergebenen, und jeder von diesen verachtet die unter ihm Stehenden. All dies stärkt das Gefühl einer Massenelite.
11. In dieser Perspektive werden alle zum Heldentum erzogen.
In jeder Mythologie ist der Held ein Ausnahmewesen, aber in der Ideologie des Ur-Faschismus ist Heroismus die Norm.
Dieser Kult des Heroismus ist eng mit dem Kult des Todes verbunden; nicht zufällig war das Motto der Falangisten » Viva la muerte! « . In nichtfaschistischen Gesellschaften wird den Leuten gesagt, der Tod sei etwas Unangenehmes, dem man jedoch mit Würde begegnen müsse; den Gläubigen wird gesagt, er sei der schmerzliche Weg zu einem übernatürlichen Glück.
Der urfaschistische Held dagegen ersehnt den Heldentod, der ihm als die beste Belohnung eines heroischen Lebens gepredigt wird. Der urfaschistische Held wartet mit Ungeduld auf den Tod. In seiner Ungeduld gelingt es ihm dann nicht selten, andere in den Tod zu schicken.
12. Da sowohl permanenter Krieg wie Heldentum schwierige 37
Spiele sind, überträgt der Ur-Faschist seinen Willen zur Macht auf das sexuelle Gebiet. Dies ist der Ursprung des Machismo (der nicht nur Frauenverachtung bedeutet, sondern auch Ablehnung und
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