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Vier moralische Schriften

Vier moralische Schriften

Titel: Vier moralische Schriften Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Offenbarung war der überlieferten Mystik zufolge lange Zeit unter dem Schleier vergessener Sprachen verborgen geblieben – sie steckte in den ägyptischen Hierogly-phen, den keltischen Runen, den Schriftrollen wenig bekannter asiatischer Religionen. Daher mußte die neue Kultur zwangsläufig synkretistisch sein. Synkretismus ist nicht nur, wie in den Wörterbüchern zu lesen steht, »die Vermischung verschiedener Religionen, Glaubens- oder Kultformen«; diese Vermischung muß auch Widersprüche ertragen können. Jede der ursprünglichen Botschaften enthält einen Splitter der Weisheit, und wenn sie Unterschiedliches oder Unvereinbares zu besagen scheinen, liegt es nur daran, daß sie allesamt allegorisch auf eine Ur-Wahrheit anspielen.
    Infolgedessen kann es keinen Fortschritt des Wissens geben.
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    Die Wahrheit ist ein für allemal offenbart worden, und wir können nur fortfahren, ihre dunkle Botschaft zu interpretieren.
    Man braucht nur einen Blick in den Kanon jeder faschistischen Bewegung zu werfen, um die wichtigsten traditionalistischen Denker zu finden. Die Nazi-Gnosis speiste sich aus traditionalistischen, synkretistischen und okkulten Elementen. Die wichtigste Quelle für die Theorien der neuen italienischen Rechten, die Schriften von Julius Evola, vermengen den Heiligen Gral mit den »Protokollen der Weisen von Zion« und die Alchimie mit dem Heiligen Römischen Reich. Gerade der Umstand, daß die italienische Rechte kürzlich, um ihre geistige Offenheit zu beweisen, ihren Kanon um Werke von De Maistre, Guénon und Gramsci erweitert hat, ist ein schlagender Beweis ihres Synkretismus.
    Wenn man in den mit »New Age« etikettierten Regalen amerikanischer Buchhandlungen stöbert, kann man dort auch Augustinus finden, der meines Wissens kein Faschist war. Aber die Vermischung von Augustinus und Stonehenge – das ist ein Symptom des Ur-Faschismus.
    2. Traditionalismus impliziert Ablehnung der Moderne. Sowohl die Faschisten wie die Nazis verehrten die Technik, während traditionalistische Denker sie gewöhnlich als Negation der überlieferten geistigen Werte ablehnen. Doch so stolz der Nazismus auch auf seine industriellen Leistungen war, sein Lob der Moderne war nur die Oberfläche einer auf »Blut und Boden« gegründeten Ideologie. Die Ablehnung der modernen Welt tarnte sich als Verurteilung der kapitalistischen Lebensweise, aber sie richtete sich in erster Linie gegen den Geist von 1789 (und natürlich von 1776). Die Aufklärung und das Zeitalter der Vernunft wurden als Beginn der modernen Verderbnis gesehen. In diesem Sinne läßt sich Ur-Faschismus als Irrationalismus definieren.
    3. Irrationalismus hängt auch mit einem Kult der Aktion um der Aktion willen zusammen. Damit eine Aktion an sich schön 34
    ist, muß sie ohne jedes vorherige Nachdenken erfolgen. Denken ist eine Form der Kastration. Darum ist Kultur suspekt, sobald und soweit sie mit kritischen Haltungen identifiziert wird.
    Mißtrauen gegenüber der intellektuellen Welt war stets ein Symptom des Ur-Faschismus, von der berühmten, Goebbels zugeschriebenen Erklärung »Wenn ich von Kultur reden höre, ziehe ich den Revolver« bis zum häufigen Gebrauch von
    Ausdrücken wie »degeneriertes Intellektuellenpack«, »Eierköp-fe«, »radikale Snobs«, »Ratten und Schmeißfliegen«. Die offiziellen faschistischen Intellektuellen waren hauptsächlich damit beschäftigt, der modernen Kultur und der liberalen Intelligenz vorzuwerfen, sie hätten die überlieferten Werte verraten.
    4. Kein synkretistischer Glaube kann Kritik hinnehmen. Der kritische Geist trifft Unterscheidungen, und zu unterscheiden ist ein Zeichen von Modernität. In der modernen Kultur preist die wissenschaftliche Gemeinschaft den Dissens als ein Mittel zur Vermehrung des Wissens. Für den Ur-Faschismus ist Dissens Verrat.
    5. Außerdem ist Dissens immer auch ein Zeichen für Vielfalt.
    Der Ur-Faschismus wächst und sucht sich Konsens, indem er die natürliche Angst vor dem Andersartigen ausbeutet und vertieft. Der erste Appell einer faschistischen oder vorfaschisti-schen Bewegung richtet sich immer gegen die Eindringlinge.
    Daher ist der Ur-Faschismus per definitionem rassistisch.
    6. Der Ur-Faschismus entspringt individueller oder gesellschaftlicher Frustration. Darum war eines der typischen Merkmale der historischen Faschismen der Appell an die frustrierten Mittelklassen, die unter einer ökonomischen Krise und/oder einer politischen Demütigung litten und sich vor dem Druck

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