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Vier moralische Schriften

Vier moralische Schriften

Titel: Vier moralische Schriften Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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klarer geworden, indem ich über semantische Probleme nachdachte – und seien Sie unbesorgt, wenn jemand uns vorhält, wir drückten uns hier ein bißchen schwierig aus. Es könnte sein, daß er durch die – per definitionem voraussehbare –
    massenmediale »Enthüllung« dazu ermuntert worden ist, ein bißchen zu einfach zu denken. Die Leute sollen lernen, schwierige Dinge zu denken, denn weder das Mysterium noch die Evidenz sind einfach.
    Mein Problem war, ob es »semantische Universalien« gibt, das heißt elementare Begriffe, die der ganzen menschlichen Gattung gemeinsam sind und in allen Sprachen ausgedrückt werden können. Das ist durchaus keine Selbstverständlichkeit, weiß man doch, daß viele Kulturen eine Reihe von begrifflichen Vorstellungen, die für uns evident sind, gar nicht kennen; zum Beispiel die Vorstellung, daß zu einer Substanz bestimmte Eigenschaften gehören (wie wenn wir sagen: »Der Apfel ist rot« ) oder die der Identität (a = a). Dennoch bin ich zu der Überzeugung gelangt, daß es begriffliche Vorstellungen gibt, die allen Kulturen gemeinsam sind, und daß sie sich alle auf die Positionen unseres Körpers im Raum beziehen.
    Wir sind Tiere, die aufrecht gehen, weshalb es für uns anstren-gend ist, längere Zeit mit dem Kopf nach unten zu verharren; darum haben wir eine gemeinsame Vorstellung von dem, was oben und was unten ist, wobei wir das erste dem zweiten vorziehen. Desgleichen haben wir eine gemeinsame Vorstellung 44
    von einer rechten und einer linken Seite, vom Stehen und vom Liegen, vom Stillstehen und vom Gehen, vom Schleichen und vom Springen, vom Wachsein und vom Schlafen. Da wir
    Gliedmaßen haben, wissen wir alle, was es heißt, auf etwas Hartes zu schlagen, in etwas Weiches oder Flüssiges einzudrin-gen, zu kneten, zu trommeln, zu stampfen, Fußtritte zu versetzen, vielleicht auch zu tanzen. Die Aufzählung könnte noch lange fortgesetzt werden und das Sehen, das Hören, das Essen und Trinken, das Hinunterschlucken und das Ausspucken einbeziehen. Und gewiß hat jeder Mensch Vorstellungen über das, was wahrnehmen, erinnern, wünschen, Angst haben, traurig oder erleichtert sein, Vergnügen oder Schmerz empfinden heißt; und was es heißt, Laute hervorzubringen, die diese Gefühle ausdrücken. Darum haben wir (und hier gelangen wir schon in die Sphäre des Rechts) universale Begriffsvorstellungen über den Zwang: Wir wünschen nicht, daß jemand uns hindert zu reden, zu sehen, zu hören, zu schlafen, zu schlucken oder auszuspucken, uns frei zu bewegen, wohin wir wollen. Wir leiden, wenn jemand uns fesselt oder einsperrt, uns schlägt, verwundet oder tötet, uns körperlichen Foltern unterzieht oder psychischen, die unser Denkvermögen beeinträchtigen oder vernichten.
    Beachten Sie, daß ich bisher nur eine Art tierischen und solitä-
    ren Adam eingeführt habe, der noch nicht weiß, was sexuelle Beziehung, Freude am Gespräch, Liebe zu Kindern oder
    Schmerz über den Verlust einer geliebten Person ist; aber schon in dieser Phase ist diese Semantik, zumindest für uns (wenn nicht für ihn oder sie), die Grundlage einer Ethik geworden: Wir müssen in erster Linie die Rechte der Körperlichkeit anderer respektieren, zu denen auch das Recht zu reden und zu denken gehört. Hätten unsere Artgenossen diese »Rechte des Körpers«
    respektiert, hätte es keinen Kindermord zu Bethlehem, keine im Zirkus den Löwen vorgeworfenen Christen, keine Bartholo-mäusnacht, keine Ketzerverbrennungen, keine Vernichtungs-45
    lager, keine Kinder in Bergwerken und keine Vergewaltigungen in Bosnien gegeben.
    Aber wie lernt das noch ganz aus Staunen und Wildheit beste-hende Adam-(oder Eva-)Tier, das ich hier eingeführt habe, auch wenn es sein instinktives Repertoire von universalen Begriffsvorstellungen sofort entwickelt hat – wodurch lernt es nicht nur zu begreifen, daß es bestimmte Dinge will und von anderen nicht möchte, daß sie ihm angetan werden, sondern auch, daß es den anderen nicht antun darf, was es sich selbst nicht angetan haben möchte? Dadurch, daß sich der Garten Eden zum Glück rasch bevölkert. Die ethische Dimension beginnt, wenn der andere ins Spiel kommt. Jedes Gesetz, ob moralischer oder juridischer Art, regelt interpersonelle Beziehungen einschließ-
    lich derjenigen zu einem Großen Anderen, der es auferlegt.
    Auch Sie schreiben ja dem tugendhaften Nichtgläubigen die Überzeugung zu, daß wir den anderen in uns haben. Aber bei dieser Überzeugung handelt es sich

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