Vier moralische Schriften
gutbürgerlich-ziviler Klei-dung. Es wäre so bequem für uns, wenn jemand auf die Bühne der Welt träte und erklärte: »Ich will ein zweites Auschwitz, ich will, daß die Schwarzhemden wieder über Italiens Plätze marschieren!« Das Leben ist nicht so einfach. Der Ur-Faschismus kann in den unschuldigsten Gewändern daherkommen. Es ist unsere Pflicht, ihn zu entlarven und mit dem Finger auf jede seiner neuen Formen zu zeigen – jeden Tag, überall in der Welt. Die Worte Franklin D. Roosevelts am 4. November 1938 sind es wert, in Erinnerung gerufen zu werden: »Ich wage zu behaupten: wenn die amerikanische Demokratie aufhört, als lebendige Kraft voranzuschreiten, um Tag und Nacht mit friedlichen Mitteln das Los unserer Bürger zu verbessern, wird der Faschismus in unserem Lande an Kraft gewinnen.«
Freiheit und Befreiung sind eine niemals endende Aufgabe.
Unser Motto muß heißen: »Nicht vergessen.«
Lassen Sie mich mit einem Gedicht von Franco Fortini schlie-
ßen:
Sulla spalletta del ponte
Le teste degli impiccati
Nell’acqua della fonte
La bava degli impiccati.
40
Sul lastrico del mercato
Le unghie dei fucilati
Sull’erba secca del prato
I denti dei fucilati.
Mordere l’aria mordere i sassi
La nostra carne non è più d’uomini
Mordere l’aria mordere i sassi
Il nostro cuore non è più d’uomini.
Ma noi s’è letto negli occhi dei morti
E sulla terra faremo libertà
Ma l’hanno stretta i pugni dei morti
La giustizia che si farà.
[Zu deutsch ungefähr:
Auf dem Geländer der Brücke
Die Köpfe der Gehenkten
Im Wasser des Brunnens
Der Speichel der Gehenkten.
Auf dem Pflaster des Marktes
Die Nägel der Erschossenen
Im dürren Gras der Brache
Die Zähne der Erschossenen.
41
Zu beißen die Luft zu beißen die Steine
Unser Fleisch ist nicht mehr von Menschen
Zu beißen die Luft zu beißen die Steine
Unser Herz ist nicht mehr von Menschen.
Doch wir lasen in den Augen der Toten
Und werden Freiheit auf Erden schaffen
Umklammert halten die Fäuste der Toten
Die Gerechtigkeit, die wir schaffen werden.]
42
Wenn der andere ins Spiel kommt
Lieber Carlo Maria Martini, Ihr Brief zieht mich aus einer großen Verlegenheit, um mich in eine ebenso große andere zu stürzen. Bisher war ich derjenige (nicht aufgrund eigener Entscheidung), der das Gespräch eröffnen mußte, und wer zuerst spricht, stellt unweigerlich Fragen in der Erwartung, daß der andere antwortet. Daher meine Verlegenheit, wenn ich mich inquisitorisch reden hörte. Und sehr bewundert habe ich die Entschiedenheit und die Demut, mit der Sie dreimal die Legende widerlegt haben, derzufolge Jesuiten auf jede Frage mit einer anderen Frage antworten.
Nun aber macht es mich verlegen, meinerseits auf Ihre Frage zu antworten, denn meine Antwort wäre nur von Bedeutung, wenn ich eine areligiöse Erziehung genossen hätte. Ich war jedoch bis zu meinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr (um den Moment eines Bruchs zu benennen) sehr stark vom Katholizismus geprägt. Die agnostische Perspektive ist für mich kein passiv aufgenommenes Erbe, sondern das leidvoll erkämpfte Ergebnis einer langen und langsamen inneren Wandlung, und ich bin mir nie sicher, ob nicht manche meiner moralischen Überzeugungen immer noch von der religiösen Prägung
abhängen, die ich ursprünglich erfahren hatte. In bereits vorge-schrittenem Alter habe ich einmal mitangesehen (in einer katholischen Universität außerhalb Italiens, die auch nichtkatho-lische Professoren einstellt, von denen sie lediglich formale Respektsbekundungen bei akademisch-religiösen Feiern
verlangt), wie einige meiner Kollegen zum heiligen Abendmahl gingen, ohne an die Transsubstantiation zu glauben und daher auch ohne vorherige Beichte. Schaudernd verspürte ich, nach all den Jahren, noch immer den Schrecken des Sakrilegs.
Dennoch glaube ich sagen zu können, auf welchen Fundamen-43
ten heute meine »weltliche Religiosität« beruht – denn ich bin fest überzeugt, daß es Formen von Religiosität gibt, also Sinn für das Heilige, für die Grenze, für die Infragestellung und die Erwartung, für die Kommunion mit etwas, das uns übertrifft, auch wenn wir nicht an einen persönlichen und vorsorgenden Gott glauben. Aber das wissen auch Sie, wie ich aus Ihrem Brief entnehme. Ihre Frage ist, was es in diesen »weltlichen« Formen von Ethik an Bindendem, Mitreißendem, Unverzichtbarem gibt.
Ich möchte mich der Frage auf einem Umweg nähern. Manche Probleme sind mir
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