Vier Tage im August
legte sich aufs Sofa, müde, aber doch zu aufgewühlt, um einschlafen zu können, und mit einem Mal packte ihn die Angst, unsichtbar trat sie auf, und ihm war, jemand schlinge gefährlich starke Arme um seinen Oberkörper und drücke ihn in böser Absicht zusammen.
Sein Handy klingelte.
Tom dachte sogleich: eine schlechte Nachricht.
Das Handy lag auf dem Tisch.
Er erhob sich mühsam, musste sich aus der zähen Umklammerung befreien.
Iris, du?
Ja, ich bin in Genua, im Krankenhaus…
Trotz ihrer schwierigen Lage gab sich seine Mutter tapfer Mühe, ihm das Vorgefallene verständlich darzustellen. Dann bat sie Tom, sie morgen am Flughafen abzuholen, Paul dürfe zurückfliegen, die Ärzte hätten den Transport erlaubt, aber er müsse zur weiteren Behandlung gleich wieder ins Krankenhaus.
IRIS HATTE IHREN SOHN voller Sorge zurückgelassen. Was seiner Mutter und Paul zugestoßen war, Tom konnte es nicht fassen. Er hatte Iris vorenthalten, was sich bei Ivo am See abgespielt hatte. Sie verdiente die Schonung. Doch ein Damm, in dessen Schutz sich Tom bisher sicher wähnte, hatte ein Leck, aus dem etwas Düsteres herausdrängte. Tom konnte es nicht aufhalten und war nicht dagegen gewappnet, es breitete sich aus, drohte alles zu fluten.
Er saß im einsamen Schreibzimmer. Fühlte sich ausgelaugt. Um gegen seine Lethargie anzukämpfen, schaltete er den Computer ein und klickte seinen Roman an.
Eine Stunde später saß er immer noch am selben Platz, kreiste er immer noch über demselben Punkt. Ratlos. Keine gelungene Zeile. Traurig schob er alles, was mit dem Roman zu tun hatte, beiseite und schaltete den Computer aus. Er hatte sich nicht auf das Werk einlassen können, sein Text hatte ihn abgewiesen. Ein wenig tröstete ihn Tolstoi, der einmal geschimpft hatte, er habe Anna Karenina satt, und ein andermal behauptete, er würde das Manuskript am liebsten wegwerfen, und der sich, als er mit Anna Karenina nur schleppend vorankam, in einem Brief beklagte: Ich kann mich nicht von lebendigen Wesen losreißen, um mir über fiktive den Kopf zu zerbrechen.
Emily war ein lebendiges Wesen, seine Schwester in Hamburg, er schaute auf die Uhr. Ob Emily wohl schon wieder im Hotel war? Ob es richtig war, sie anzurufen– ob es klüger wäre, es nicht zu tun? Sie nicht zu erschrecken? Hier läuft einiges gerade schief, Schwesterherz.
Ein Schriftsteller denkt sich in andere Menschen hinein. Es gehört zum Handwerk, in eine fremde Haut zu schlüpfen, sich in einem fremden Kopf umzuhören und aus einem fremden Herzen heraus zu sprechen. Schriftsteller wie Tolstoi beherrschen das.
Tom knüpfte das Unglück, das Iris und Paul in Genua widerfahren war, mit dem Unglück seines leiblichen Vaters zusammen.
Lose Fäden?
Die verborgene Geschichte.
Tom räumte ein, die Verbindung der kriminellen Vorfälle könnte dem Wunsch seiner romantischen Schriftstellerseele nach Zusammenhängen entsprungen sein. Tom traute zuerst einmal seiner Intuition. Die Fakten erzählten zu wenig. Er hatte bis jetzt nur die raue Oberfläche, das Geschehen, nicht aber das darunterliegende Gewebe wahrgenommen. Was bedeutete das alles? Vielleicht waren die bisherigen Verbrechen erste Stufen einer hasserfüllten Auseinandersetzung, deren weiteren Gang er noch nicht zu erkennen vermochte und an deren Ende Tote zu beklagen sein würden.
Als Schriftsteller setzte Tom sich unter Druck, die weißen Stellen mit einem eigenen Entwurf zu schließen.
Als Bruder fühlte er sich verpflichtet, seine Schwester anzurufen. Nicht für sie zu entscheiden, sondern ihr die Entscheidung zu überlassen. Sie konnte ins Camp fahren, wollte aber vielleicht lieber nach Hause fliegen.
IN LIGURIEN HATTE EIN SCHLECHT gewarteter Lastwagen, der liegen blieb, ein Radrennen gestoppt. Der Verkehr stand still, und auf der Unfallstelle war ihm ein alter Widersacher über den Weg gelaufen… nein, Leo Zimny hatte das Unheil nicht vorhersehen können. Und nicht seine Folgen, seine Bedeutung. Nichts war zu seltsam, um einzutreten, er musste das einmal mehr erleben. Und ausbaden. Es war über ihn gekommen, er hatte handeln müssen, doch die Sache war noch nicht ausgestanden.
Leo Zimny stand auf dem kleinen Balkon vor seiner Küche. Von dem asiatischen Gericht, das er aufgewärmt hatte, roch es nach Hähnchen und Curry. Er war verwundert über die Abendsonne, die ihm ins Gesicht schien. Er ließ sich das gern gefallen, hielt eine Flasche Bier in der Hand und stützte sich mit der anderen auf dem Geländer
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