Vier Tage im August
zwischen den Sternen unterwegs war. Leo nahm ihn in die Hand, der Stein wog schwer, und gerade die Tatsache, dass er auf die Erde hinuntergestürzt war, machte ihn kostbar.
Die Bauarbeiter würden, wenn sie einmal loslegten, höchstens ein paar Tage benötigen, und auch das Haus, in dem er wohnte, wäre ein Trümmerhaufen. Die zweite Etappe war bestimmt schon in Planung, der Eingriff beschlossene Sache. Es gab keine Sicherheit, nein, nicht einmal die eigenen vier Wände boten einem Schutz. Bestimmt erhielten die verbliebenen Mieter demnächst einen eingeschriebenen Brief des Hausbesitzers, die Kündigung. Auch Leo müsste seine Sachen dann in Koffer und Säcke verstauen und die Möbel wegschaffen. Was hielt ihn denn hier noch fest? Nichts. Er sollte ein Ticket kaufen und wieder nach Asien fliegen.
Leo hatte eine weitere Flasche Bier geöffnet. Statt der achtundvierzig Wohneinheiten, die von einem Generalunternehmer in den kommenden Monaten hochgezogen werden sollten, sähe er da unten lieber eine Wiese mit Bäumen und eine Dönerbude an der Ecke oder einen kleinen Tempel, wie es sie in Thailand überall gab. Er grinste. Aber ihn fragte ja keiner um seine Meinung.
In Thailand hatte Leo Buddhas Pfad mehrmals gekreuzt. Während der Betrachtung eines steinernen Fußabdrucks war in seinem Kopf ein Wecker losgerasselt. Der Lärm hatte ihn schier umgehauen. Nach der Attacke war ihm gewesen, als sei er jäh aufgeweckt worden. Das entsprach auch der Notwendigkeit, ihm klar vor Augen zu führen, dass er sich nicht auf der inneren Suche und nicht auf einer grandiosen Asienreise befand, sondern auf der Flucht.
Der riesige Fußabdruck war ein starkes Statement. Es überzeugte Leo viel mehr als das Kreuz der Christen. Buddha war hier, signalisierte der Fußabdruck. Der Gekreuzigte schaute auf einen herab: Ich bin für dich gestorben. Leo hatte ihn nicht um dieses unsägliche Opfer gebeten, im Gegenteil, es widerstrebte ihm, dass der sich anbiedernde Schmerzensmann unbedingt auch für ihn gestorben sein wollte.
Tritt nicht in meine Fußstapfen, war Buddhas Botschaft: Such deinen Weg selbst, zünde eine eigene Lampe an.
Das Bier stieß ihm auf, Leo zog süßlichen Rotz hoch und spuckte auf die Baustelle hinunter. Ohne sie zu erreichen. Was auch nichts geändert hätte. Insgeheim betrachtete sich Leo Zimny als Denker, auf jeden Fall als geplagten Mann, dessen Kopf nie Ruhe gab, der Gedanken wälzte und wälzte und selbst unter die Walze geriet.
Dass er nun, die letzten Sonnenstrahlen im Gesicht, mit Blick auf die Straße und den Supermarkt, der noch offen hatte, auf dem Balkon stand, besänftigte ihn eine Weile. Die Abrissbirne imponierte Leo auch. Sie machte Wege frei. Sie verwaltete ein gigantisches Zerstörungspotenzial.
Es gab Dinge, die wusste Leo einfach. Unterschwellig. Er hatte das im Gespür. Keine Ahnung, woher es kam. Leo redete mit niemandem über dieses zugeströmte Wissen, weil er niemandem traute. Und er hatte die Erfahrung gemacht, dass ihm schwere Fehler unterliefen, wenn er es ignorierte. Der einzige Mensch, dem er sich öffnete, war Alice. Niemals lachte sie ihn aus. Sie wusste über alles Bescheid, was ihn bewegte, war seine Vertraute, seine Verbündete, seine Geliebte. Von den zahlreichen, in seinem Kopf durcheinanderredenden Stimmen hatte nur diejenige von Alice eine persönliche Färbung. Leo erkannte sie sofort. Unverwechselbar wie das Solo einer Amsel klang sie in seinem Kopf. Alice sprach und führte ihn, als würde sie in ihm wohnen. Und Buddha? Er verfügte über keine hörbare Stimme, seine Worte erschienen in Luftspiegelungen oder als Flammenschrift an der Wand.
Was immer mit der Abrissbirne aus der Welt geräumt wurde, es entstand keine Lücke. Die Zerstörung öffnete den Blick auf das, was bisher dahintergelegen hatte. Zum Beispiel auf die Reihe japanischer Kirschbäume, die man vom Supermarkt aus würde bewundern können, sobald sein Haus die Sicht darauf nicht mehr verstellte. Aber auch die Kirschbäume, falls man sie fällte, würden nicht wirklich fehlen. Schrott und Schutt und Asche und Grab. Ein Sorgengrund war es nicht. Leo könnte sich selbst wegputzen. Schadensumme null. Und er konnte weggeputzt werden.
Du bist stark, aber einmal kommt einer, der dich besiegt.
Der würde ihn zermalmen. Oder totbeißen. Leo wäre dann nur noch auf Fotos vorhanden. Ja, es würde Aufsehen erregen, wenn man im Augenblick des Todes auch von allen Fotos verschwände, wenn die Person, die Leo auf Fotos
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