Vier Tage im August
war, wenn sein fotografisches Abbild beim langsamen Sterben sich langsam auflöste. Und bei einem jähen Tod jählings. Jemand, der ein Foto von Leo Zimny besaß, könnte dabei zuschauen, wie er, wie sein Abbild erlosch und von dem Gegenstand ersetzt wurde, den er im Augenblick der Aufnahme verdeckt hatte. So hätte Buddha gesprochen, wenn zu seiner Zeit schon fotografiert worden wäre. Leo gefiel diese Vorstellung.
Auf der Straße hielt die Trambahn an. Leo nahm sich vor, die dritte Person, die ausstieg, zu isolieren; es war eine Frau. Er stellte sich vor, sie wegzuklicken. Um dann die sechste Person ins Fadenkreuz zu nehmen. Ein Mann, weg mit ihm. Es funktionierte wie am Computer, wenn er ein Objekt wegballerte. Der Treffer verwandelte es in eine Wolke, und die Wolke verpuffte. Ohne Überbleibsel. Es war wie nichts gewesen. Volltreffer. Auslöschung. Keine Spuren. Der Idealfall. Das Standardblau von Windows war Leos Lieblingsfarbe. Ein Windows-See, dessen Oberfläche sich immer wieder selbstheilend schloss, was auch immer man ins Wasser kippte.
Die Sonne erreichte den Balkon nicht mehr, das Licht veränderte sich mit einem Schlag, das Grelle verschwand, als hätte jemand eine viel zu starke Lampe ausgeknipst. Alice bestärkte ihn. Es ist gut, es ist das Beste für dich, dieses Haus, diese Durchzugbude zu verlassen.
Leo Zimny holte weit aus und schmetterte die leeren Bierflaschen mit Wucht auf den Bauplatz hinunter. Eine nach der anderen zerplatzte, aber weit weniger laut, als er sich das vorgestellt hatte. In der gedehnten Sekunde ihrer Flugbahn, bevor sie am Boden zerschellten, riss der Faden zu ihm. Er hatte mit dem Wurf, mit dem Aufschlag dort unten, der dreimal erfolgten kleinen Explosionen, nichts zu schaffen. Das ging ihn nichts an.
Er trat in die Wohnung, ging ins Bad und schaute sich lange im Spiegel an. Der Wunsch, in den eigenen Augen zu lesen, erfüllte sich nicht. Statt Gucklöcher in die Seele waren sie blinde Spiegel. Ein feistes Gesicht schaute ihn an, er versuchte, einen Fremden zu erfassen. Es war unmöglich, sich in diesen Mann hineinzudenken. Auch wenn der Fettwanst genau so aussah wie man selbst. Man konnte niemals wissen, was jemand anderem im Kopf umging. Zum Glück. Es wäre verheerend, wenn jemand ihn, Leo Zimny, durchschaute.
Nur Alice besaß diese Gabe, sie hatte Einblick in seine Gedanken, er hörte ihre Stimme, sie beriet ihn, sie förderte ihn, sie erteilte ihm klare Befehle. Alice war ihm immer einen Schritt voraus. Und ihre Stimme lullte ihn ein. Leo schloss die Augen, er sah sein Gesicht von innen, von hinten, die Innenseite einer Maske aus schlammfarbigem Material. Ihm war, er stehe seit Stunden vor dem Spiegel, erstarrt, ein neuer Buddha, sein Gesicht war auf dem Spiegelglas wie auf einem Monitor eingebrannt, ein Nachglühen, schon so lange verweilte er reglos im Bad. Der Zeit entsprach nicht eine Uhr mit kreisendem Sekundenzeiger. Sie war vielmehr wie das ungezügelte Feuerwerk in der Neujahrsnacht. Und alles, was in den letzten zwei Tagen hier geschehen war und sich anderswo zugetragen haben mochte, könnte auch die Ausgeburt eines kranken Gehirns sein, seiner eigenen, wilden Fantasie entsprungen. Er verschanzte sich seit Tagen in seinem abbruchreifen Bad, hatte sich nie bewegt, hatte sich immer vor dem Spiegel zu erfassen versucht. Und sich verwandelt. Die Realität war etwas Überschätztes, gewiss. Etwas ins Wolkige Aufgebauschtes. Ohne genau zu wissen, warum, gleichwohl ohne einen Augenblick des Zögerns, bereitete Leo dem Stillstand ein Ende. Er nahm den Rasierer und schnitt den Schnauzbart ab. Danach rasierte er sich den Schädel, von der Stirn bis zum Nacken, vollkommen kahl.
SPÄTER , DRAUSSEN WAR ES schon dunkel, legte Leo seine Messer auf den Küchentisch. Eine beachtliche Kollektion. Geräuschlose Waffen. Intime Waffen. Er prüfte eine Klinge mit dem Daumen. Je härter der Stahl, umso schärfer der Schliff. Harte Klingen waren aber weniger biegsam. Sie konnten brechen. Es war nicht einfach, ein Messer im Körper eines Gegners zu versenken, das konnte schiefgehen, die Klinge konnte auf Knochen treffen, an den Rippen abgleiten.
Mit einem Messer umzugehen, hatte er in Thailand gelernt. Bei einem Fischer. Ab sechs Uhr am Morgen hatte er den fangfrischen Fisch zerlegt. Hatte den Bauchschnitt beim After angesetzt, die Eingeweide herausgezogen, den Kopf abgehackt, Schuppen weggeschabt, den Fisch filetiert. Nach der Messerarbeit trug er den Fisch aus, mit einem Van fuhr
Weitere Kostenlose Bücher