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Vier Tage im August

Vier Tage im August

Titel: Vier Tage im August Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvio Blatter
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ab. Es hätte einen neuen Anstrich nötig, ja, er sollte im Supermarkt eine Dose Lackfarbe kaufen und das Geländer frisch streichen. Rot. Er schaute vom vierten Stock auf eine weitläufige, halb im Schatten liegende Baustelle hinunter. Ein aufgeräumtes Schlachtfeld. Er nahm einen langen Schluck des kühlen Biers. Die Baustelle ließ ihn an Phuket denken, wo er lange gelebt hatte. Hier dominierte schweres Baugerät, es waren immer nur wenige Männer zu sehen. AufBaustellen in Phuket hatte es von Arbeitern mit nackten Oberkörpern gewimmelt, die mit langen Stangen Gerüste bauten und mit Pickeln und Schaufeln und Tragkörben arbeiteten.
    Die Abrissbirne, eine schwere Eisenkugel, hing reglos am Stahlseil. Ein Bulldozer stand schräg auf dem Bauschutt, zwei Schaufelbagger und mehrere Lastwagen waren am Rand geparkt. Es arbeitete niemand mehr auf der Baustelle, die Baracke war zugesperrt. Eine Zeile Häuser, auf deren Fassade Leo nun fünf Jahre geblickt hatte, war dem Erdboden gleichgemacht worden. Ein einschneidendes Ereignis. Leo grübelte, ob es einen Anfang oder ein Ende darstellte. Aber das Wichtigste waren die Konsequenzen. Er hätte das längst wissen müssen. Bei allen Dingen war es der Fall: Tu nichts, ohne an die Folgen zu denken. Weil du im Zorn blind bist, steckst du wieder im Schlamassel. Du bist zu wenig kaltblütig, Leo. Du hast einen zu weichen Kern. Scheiße statt Eisen.
    Leo Zimny hatte die präzise Arbeit der Männer mit den gelben Helmen und ihren höchst wirkungsvollen Maschinen mit Skepsis verfolgt und den ganzen Lärm und Staub der Abbrucharbeiten stoisch ertragen. Zuerst waren die Außenwände aufgeschlagen worden. Er hatte plötzlich in fremde Küchen und Zimmer hineingesehen. Vielmehr sah er, was davon noch übrig war, zersprungene Fliesen, gekappte Leitungen und die hellen Vierecke auf dem schmutzigen Boden, wo der Kochherd und der Kühlschrank gestanden hatten. Leo stellte sich vor, wie Leute dort Fertiggerichte in die Mikrowelle geschoben und mürrisch vor dem Fernseher gesessen hatten. Die Häuser lagen offen da wie verlassene Puppenstuben. Leo glaubte, das Gekritzel eines Kindes auf einer Wand zu erkennen, auf Kniehöhe. In Räumen, die übereinanderlagen und Schlafzimmer gewesen sein dürften, unterschied er die Motive der Tapeten und entdeckte ein Loch in der Decke, als hätte ein Blitz vom Dach her durch alle Stockwerke geschlagen. Leo hatte keinen der früheren Bewohner persönlich gekannt. Telefone hatten geklingelt. Das hatte er gehört.
    Du bist immer ein Außenseiter gewesen, Leo.
    Das stimmte, Alice sah das richtig, ihre Einlassung musste dennoch ergänzt werden. Leo hätte oft gern dazugehört: zu einer Gruppe, zu einem Team, zu einer Mannschaft. Er wollte nie ein gehässiger Einzelgänger werden, passte aber auf Dauer in kein Gefüge.
    Abgesehen von der Sonne, die seinen mickrigen Balkon beschien, seit die Abrissbirne dafür Raum geschaffen hatte, ging Leos neue Aussicht auf eine belebte Straße hinaus. Die Trambahn und der Bus zogen vorbei, überall umtriebige Menschen. Das war gewöhnungsbedürftig. Leo könnte das neue Bild für eine Fata Morgana halten, wären die Einzelheiten nicht allzu real. Besonders, weil sich durch den Alkohol alles zu verlangsamen schien und mitten in der Bewegung zu erstarren drohte. Der Mann mit dem riesigen Kinderwagen, er trug einen Bart. Die Frau auf dem Fahrrad, ihre rote Mütze war ein munterer Farbakzent. Der Junge mit dem Ball unter dem Arm. Blöde Tauben, die nach Essbarem suchten. Vom Balkon aus gelang es ihm, die Plakate neben dem Eingang des Supermarkts zu lesen. Und wenn Leo nun einerseits hier stehen bleiben und anderseits auch vor dem Supermarkt Position beziehen könnte, um von dort aus das heruntergekommene Mehrfamilienhaus zu betrachten, ja, dann könnte Leo sich von dort drüben auf seinem Küchenbalkon beobachten. Aber das war nicht möglich. Er müsste sich dafür verdoppeln können. Für den Doppelgänger wäre es dann ein Leichtes, den langen, dicken Biertrinker mit einem Gewehrschuss vom Balkon herunterzuholen.
    Der Altbau, in dem Leo allein lebte, befand sich in einem schlechten Zustand; es war nicht viel Fantasie erforderlich, um sich auszumalen, dass auch seine Tage längst gezählt waren. Es reizte Leo, den kleinen Meteoriten, der in seiner Hosentasche steckte, gezielt Richtung Abrissbirne zu schleudern. Aber der Himmelsstein aus Eisen und Nickel war als Geschenk für seine geliebte Alice gedacht, die gerade irgendwo

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