Vier Tage im November: Mein Kampfeinsatz in Afghanistan (German Edition)
jetzt bin ich weg. Das fühlt sich einfach total komisch an. Und gestern auf der Patrouille hab ich auch noch meine Halskette verloren. Da waren der Ring und der Schutzengel-Anhänger von ihr dran.
Scheiße, sagte ich ruhig. Ich verstehe dich. Aber trotzdem musst du dich auf deine Arbeit konzentrieren. Wenn du fährst, bist du für uns alle verantwortlich. Sei ehrlich, wenn du ’ne Pause brauchst, dann fährt so lange einer von uns, sagte ich mit beruhigender Stimme, aber eindringlich.
Schließlich nickte er und sagte: Es geht schon.
Weißt du, TJ, der Chef jagt uns bestimmt noch öfter in diese Richtung. Wir sammeln die Kette einfach beim nächsten Mal wieder ein, grinste ich und schlug ihm auf die Schulter.
Abends besuchte ich die Amerikaner, die mich inzwischen schon wie einen guten Freund begrüßten. Ich mochte die herzliche Art dieser Männer sehr, die so entspannt und locker wirkten, während sie sich in einem Kampfeinsatz befanden. Im Gegensatz zu uns mussten sie fast ein Jahr in Afghanistan bleiben. Nur für zwei oder drei Wochen durften sie in dieser Zeit nach Hause fliegen. Trotzdem nahmen sie alles mit Humor.
Besonderen Spaß hatte ich mit Rico. Dies war nicht sein tatsächlicher Name, aber er stammte aus Puerto Rico und alle nannten ihn so. Er war fast zwei Köpfe kleiner als ich. Seine gute Laune war richtig ansteckend, und während die Amerikaner mich zum Abendessen einluden, scherzten wir über die Situation, in der wir uns befanden.
Sie hatten aus einem alten Kühlergrill und Steinen eine Feuerstelle für ein zünftiges Barbecue improvisiert. Einer von ihnen schwenkte eine kleine rote Flasche herum. »Extra-extra hot« stand auf dem Etikett der Grillsauce. Er forderte mich tatsächlich auf, einen Tropfen davon durch die Nase zu ziehen. Ich zeigte ihm grinsend einen Vogel und beobachtete fasziniert, wie er selbst die Flasche ansetzte. Wir konnten den armen Mann schließlich eine halbe Stunde mit Tränen in den Augen durch das Polizeihauptquartier rennen sehen.
Die nächsten Tage vergingen mit einer besonderen Form des Wartens. Für einen Soldaten bestand die Hälfte der Arbeitszeit aus Warten. Warten aufs Essen, Warten aufs Antreten, Warten auf den Dienstschluss. Je mehr Personen an etwas beteiligt waren, umso länger musste man warten. Die Bundeswehr bestand aus Hunderttausenden Personen. Befehle mussten von den Führungsebenen weitergeleitet, Soldaten eingewiesen, Kolonnen in Marsch gesetzt werden. Ständig waren wir damit konfrontiert, Wartezeit hinter uns bringen zu müssen. Vielleicht lagen Soldaten deshalb so gerne in jeder freien Minute im Bett.
Wir warteten immer noch auf das erste Gefecht. Der Gegner war irgendwo da draußen. Als Taliban, Räuber oder unzufriedener Dorfbewohner. Die Frage, gegen wen wir hier eigentlich antreten sollten, war genauso schwer zu beantworten wie die Frage nach dem Ort, an dem er zuschlagen würde. Wir waren zum Reagieren verdammt, zum Abwarten verflucht. Zum Abwarten auf einen Kampf, der uns als selbstverständlich und unausweichlich schien. Die Aufständischen würden uns irgendwann angreifen, niemand hatte den geringsten Zweifel daran. Aber wann würde es passieren? Die Ungewissheit über den Zeitpunkt machte uns mürbe. Zu wissen, dass wir würden kämpfen müssen, war nicht so schlimm wie die Ungewissheit, wann es endlich dazu kam.
Ich sehnte mich nach dem ersten Kampf. Aber nicht, weil ich mich so auf das Gefecht freute, sondern weil ich die quälende Warterei, diese Ungewissheit, endlich hinter mich bringen wollte.
Die Welt kam mir in diesem Moment sehr kompliziert vor. Wir waren in einem Verteidigungsbündnis. Und ich erinnerte mich, dass es die Vereinten Nationen waren, die am 12. September 2001 Amerika das Recht zur Verteidigung zugesprochen hatten. Nur aufgrund dieser Entscheidung hatte die Nato den Bündnisfall ausgerufen und damit den Krieg in Afghanistan gebilligt. Hatten wir uns nicht fünfzig Jahre lang im bequemen Schutz dieses Bündnisses befunden?, fiel mir ein. Vielleicht war der Ansatz, mit dem wir nach Afghanistan geschickt worden waren, ein falscher. Vielleicht stimmte es ja, dass die Amerikaner anfangs nur Terroristen töten wollten, und wir Deutsche es waren, die einen Wiederaufbau versprochen hatten. Aber inzwischen war so viel passiert. Zehn Jahre Krieg. Als er ausbrach, waren die meisten von uns Soldaten noch Kinder.
Wir können nichts für die Entscheidungen von 2001, dachte ich trotzig. Aber nun sind wir in dieser Situation
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