Vier Tage im November: Mein Kampfeinsatz in Afghanistan (German Edition)
Polizeihauptquartier ausharren zu müssen.
Wir waren immer noch voller Euphorie. Sogar Muli erzählte ununterbrochen vom gestrigen Tag. Es war seine Art, das Ganze zu verarbeiten.
Wir hatten uns gut behauptet und waren sehr stolz auf unsere Leistung. Und, was mit Abstand das Wichtigste für mich war: Wir hatten es geschafft. Richtig gekämpft, es hinter uns gebracht. Die Last der Ungewissheit fiel endlich von mir ab, ich fühlte mich enorm erleichtert. Nicht, weil mir nichts passiert war. Sondern weil ich nun nicht mehr überrascht werden konnte. Ich war in die Luft gesprengt und beschossen worden. Hatte selbst geschossen und den Überblick behalten. Hatte mich in die Führung eingemischt und recht behalten. Ich hatte wirklich gute Arbeit geleistet. Mein Selbstvertrauen war grenzenlos. Natürlich war mir bewusst, dass es sehr knapp gewesen war. Aber das quälende Warten war schlimmer als diese Erkenntnis gewesen. Ab jetzt würde es mich nicht mehr unvorbereitet treffen. Denn ab jetzt hatte ich Kampferfahrung. Der Tag gestern war unser Tag!
Ab sofort musste das Gelände neben dem Friedhof auf der Westplatte rund um die Uhr bewacht werden. Der Chef entschied, die Patrouillen auf der Hauptstraße einzuschränken und stattdessen jede Gruppe dort oben für drei Stunden stehen zu lassen.
Die dreistündige Wache war eine große Geduldsprobe. In voller Ausrüstung dort oben stehen zu müssen, in die Ferne zu blicken und ständig wachsam zu sein. Die Selbstverpflichtung, immer hundert Prozent geben zu müssen, nicht eine Minute an Wachsamkeit nachlassen zu dürfen, zehrte stark an meinen Kräften. Es fiel mir sehr schwer, während der Nachtstunden wach zu bleiben. In uns allen hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass wir dem Zeitpunkt eines Angriffs machtlos gegenüberstanden. Nicht wir entschieden, wann auf uns geschossen, wann wir in die Luft gesprengt werden sollten. Wir waren zum Reagieren verdammt und wussten erst jetzt so richtig, was das bedeutete.
Die Aktionen gingen vom Gegner aus. Einem Gegner, den wir nicht sehen konnten, der sich nur bemerkbar machte, wenn er zuschlug. Und dabei schien er hart und unerbittlich zu sein. Dabei wussten wir noch nicht einmal, wer dieser Gegner war. Wer hatte uns auf der Westplatte und auf dem Rückweg angegriffen? Waren es überhaupt Taliban? Hatte es mit der Drohung zu tun, nicht mehr auf den Friedhof zu fahren? Waren es vielleicht aufgebrachte Dorfbewohner?
Ich saß bei den Sprachmittlern am Tisch und unterhielt mich angeregt. Ich hatte so viele Fragen.
Weißt du, sagten sie, der Präsident sitzt in Kabul. Und vollkommen egal, was für Gesetze er erlässt, sie erreichen den Bauern im Dorf nicht. Hier in Afghanistan ist jeder Mensch nur seinem Stamm oder seinem Dorf oder seinem Kriegsführer verpflichtet. Wenn sein Dorf oder sein Führer gegen den Präsidenten sind, ist er es auch. Denn wenn er sich weigert, wird er erschossen oder, noch schlimmer, ausgestoßen. In den letzten Jahren hat sich einfach zu wenig geändert.
Aber es gibt doch Fortschritte, warf ich dazwischen.
Natürlich gibt es Fortschritte. Aber sie sind so minimal, weil die meiste Unterstützung, das meiste Geld unterwegs verschwindet. Die Straße hier ins Chahar Darrah – die Straße, die ihr jeden Tag benutzt – sollte schon vor Jahren asphaltiert werden. Aber das ganze dafür bereitgestellte Geld ist wegen der Korruption verschwunden. Wenn die Menschen, die an dieser Straße leben, euch einmal am Tag vorbeifahren sehen, ist das ’ne Menge. Aber sie sehen euch eben nur vorbeifahren. Und was ist mit den Dörfern abseits der Hauptstraße? Da kommt niemand hin. Ist doch klar, dass sie lieber mit den Taliban oder irgendeinem Clanchef zusammenarbeiten, der ihnen entweder eine Kalaschnikow an den Kopf hält oder wenigstens zwanzig Dollar gibt. Und diesen ganzen Clanchefs und Warlords seid ihr auch egal. Sie handeln nur, wenn ihr ihnen zufällig in die Quere kommt, weil ihr eine Waffenlieferung abgefangen oder eines ihrer Häuser durchsucht habt. Dann liegt halt am nächsten Tag eine Bombe in der Straße.
Oder weil wir sie verärgert haben, sagte ich nachdenklich und dachte an die Situation am Friedhof.
Genau, pflichteten sie mir bei. Sicher haben euch gestern nicht irgendwelche Dorfbewohner einfach beschossen. Da haben die Aufständischen einfach nur eine Möglichkeit gesehen, aus der Situation einen Gewinn zu schlagen. Denn eines muss euch klar sein. Ihr wisst gar nichts, aber die wissen alles. Die
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