Vier Tage im November: Mein Kampfeinsatz in Afghanistan (German Edition)
wissen, wann ihr wohin fahrt, wie viele ihr seid und ob sich ein Angriff lohnt. So wie gestern.
Ich hatte große Augen bekommen, mir waren diese Zusammenhänge bisher völlig unbekannt gewesen.
Noch Stunden später dachte ich im Feldbett über diese Dinge nach und konnte langsam verstehen, warum wir es hier so schwer hatten. In Deutschland konnte jeder Mensch unabhängig von seiner gesellschaftlichen Stellung seine Stimme einbringen. Bei der Wahl oder einer Demonstration, jede Stimme zählte. Aber hier in Afghanistan waren es wenige Machthaber, deren Stimme Gewicht hatte. Und bei den einfachen Menschen ging der Einfluss nicht über das Dorf oder den Stamm hinaus. Der Dorfälteste und mit ihm das ganze Dorf vertraten eine Meinung. Aber wenn das ganze Land zwischen Hunderten Dörfern, Stämmen, Volksgruppen und Banden zersplittert war, machte eine Parlamentswahl im Grunde gar keinen Sinn. Außerdem waren die Menschen einfach zu arm. Wenn man nicht wusste, wie man den nächsten Tag überleben sollte, wie man etwas zu essen auf den Tisch bekam, interessierte man sich herzlich wenig für Politik. Und ohne Bildung würden die Menschen hier niemals die Möglichkeit erhalten, etwas an ihrer Situation zu ändern. Sogar die Selbstmordattentäter erschienen mir nicht länger so schrecklich absurd. Sie waren durch religiöse Versprechen geködert worden, ähnlich wie die katholische Kirche den Menschen lange Zeit predigte, dass sie nur in den Himmel kommen, wenn sie Opfer brachten oder im Heiligen Land kämpften.
Die Taliban waren vermutlich nur eine von vielen Gruppen, die ihre Machtbasis erhalten wollten, und dafür jedes Mittel zu nutzen bereit waren. Am schlimmsten erschien mir, dass wir zwischen all den verschiedenen Fronten gefangen waren und bloß reagieren konnten. Was brachte es, in einem Dorf einen Brunnen zu bauen, wenn wir damit gleichzeitig ein anderes Dorf erzürnten, weil es mit dem ersten Dorf verfeindet war. Welchen Sinn ergab es, eine Mädchenschule zu eröffnen, wenn sie nach kurzer Zeit wieder schließen musste, weil wir sie nicht ständig schützen konnten. Ein grundlegender Aufbau in diesem Land würde Jahrzehnte dauern, und wir waren dafür viel zu wenige. Hatte unsere Mission dann überhaupt Sinn? War es tatsächlich unsere Verantwortung, uns um diese armen Menschen zu kümmern? In dieser Nacht schlief ich lange nicht ein.
Als wir nach einigen Tagen unsere zweite Raumverantwortung beendet hatten und wieder ins Feldlager kamen, erwartete mich eine freudige Überraschung. Die beiden Kameraden, die den Platz in meinem Container besetzt hatten, waren endlich ausgezogen. Und obwohl ich mich nach Erholung sehnte, räumte ich bereitwillig Möbel um, schleppte Spinde und Kisten, wischte Staub und sortierte Klamotten. Auch Butch und Dolli waren froh, mich endlich los zu sein. Ich fühlte mich in meinem Container zum ersten Mal richtig wohl. Am ersten Abend nach unserer Rückkehr ins Feldlager fand ein großes Grillfest statt. Ich hatte überhaupt keine Lust darauf, wollte einfach nur meine Ruhe haben. Trotzdem freute ich mich schon fast darauf, wieder rausfahren zu können. Die Feldlagerverordnung gestattete zwei Dosen Bier am Tag. Viele legten das an diesem Abend sehr großzügig aus. Niemanden kümmerte es. Immerhin hatten wir unsere Feuertaufe bestanden.
In der folgenden Nacht war mir eine Idee gekommen, und ich klopfte am nächsten Tag an Müs Container. Ich meldete mich ordnungsgemäß und militärisch bei ihm.
Was wollen Sie?, fragte er mich.
Ich weiß, dass Hilfsgüter zentral über die Bundeswehr organisiert werden, fing ich an. Aber dürfte ich trotzdem ein paar Briefe verschicken? Ich würde gerne um Spenden für Fußbälle und Trikots bitten.
Mü überlegte kurz. Meinetwegen, brummte er kurz und entließ mich wieder.
Ich machte mich gleich an die Arbeit. Und so schickte ich an diesem Tag Briefe an Adidas, Puma, Nike und alle anderen Sportartikelhersteller, die mir eingefallen waren. Wenn ich ein paar nützliche Spenden erhielt, könnte ich damit den Menschen draußen in den Dörfern eine Freude machen und vielleicht sogar den Zugang zu ihnen verbessern.
Die meisten hatten sich inzwischen eine Aufgabe gesucht, irgendeine Beschäftigung, die Spaß machte. Einige schliefen in jeder freien Minute. Andere fingen an, Bücher zu lesen oder spielten Karten. Viele schrieben Briefe oder führten Tagebuch. Vor kurzem hatte sich eine Gruppe gefunden, die zu jeder Zeit eifrig Schach spielte. Sie nahmen das
Weitere Kostenlose Bücher