Vier Werte, die Kinder ein Leben lang tragen
Jahr leidet Sandra häufig an Bauchschmerzen, die manchmal so heftig sind, dass sie aus der Schule nach Hause geschickt wird. In letzter Zeit sind sie so schlimm geworden, dass der Verdacht auf Blinddarmentzündung bestand. Doch Sandras Kinderarzt meint, dass ihre Probleme keinerlei organische Ursachen haben. Nachdem ich nun die Artikel in der Zeitung gelesen habe, mache ich mir große Sorgen, dass Sandra unter Stress steht und mein Lebensstil die Ursache für ihre häufigen Bauchschmerzen ist. Ich weiß aber nicht, wie ich daran etwas ändern soll – schließlich muss ich doch Geld verdienen und für uns beide sorgen. Da sehe ich wirklich keine Alternative. Leider zehren die viele Arbeit und mein ständiges schlechtes Gewissen, dass ich zu wenig Zeit für meine Tochter habe, auch an meiner Gesundheit und meinen Nerven. Am Wochenende bin ich oft so erschöpft, dass ich keine Geduld habe und schnell zu schimpfen anfange, wenn Sandra trödelt und nicht so mitmacht, wie ich mir das vorstelle. Mir wird alles zu viel, schließlich bleibt ja kaum mehr Zeit für mich selbst oder für Freunde. Ich habe Angst, dass ich alles falsch mache, und weiß keinen Ausweg. Was soll ich bloß tun, damit es meiner Tochter wieder besser geht und wir ein entspannteres Miteinander haben?
Eine verzweifelte, gestresste Mutter
Antwort von Jesper Juul:
Lassen Sie mich zunächst einmal damit beginnen, dass Ihre Tochter mit ihren psychosomatischen Bauchschmerzen nicht allein dasteht. Immer mehr Kinder leiden unter Stresssymptomen. Die häufigsten sind Kopf-, Muskel-, Bauchund Gelenkschmerzen, Schwindelanfälle und Sehstörungen. Doch ehe es so weit kommt, bemerken wir oft eine scheinbar unerklärliche Aggressivität und Reizbarkeit, verminderten oder stark erhöhten Appetit, »Trotz« und Starrsinn sowie Kinder, die plötzlich »Nein«! sagen, wo sie früher kooperiert haben. Noch früher beginnt der Energielevel der Kinder spürbar zu sinken.
Kinder reagieren also genauso wie Erwachsene und auch aus demselben Grund: Es ist zu einem chronischen Ungleichgewicht gekommen zwischen ihren eigenen Grenzen und Bedürfnissen und ihrem Drang, mit dem Verhalten der Eltern sowie den Forderungen und Erwartungen ihrer Umwelt zu kooperieren. Geschieht dies über einen längeren Zeitraum hinweg, machen sich die voraussagbaren Signale und Symptome bemerkbar, die hier beschrieben werden.
Ich kann Ihnen nur sagen, dass Sie eine existenzielle Entscheidung treffen müssen: Ihren bisherigen Lebensstil fortzusetzen oder diesen zu ändern. Wenn Sie ihn fortsetzen – das ist ja immerhin eine der beiden möglichen Alternativen, für die Sie die Verantwortung übernehmen können –, müssen Sie sich darauf einstellen, nicht nur die Verantwortung für die körperliche und seelische Gesundheit Ihrer Tochter zu übernehmen, sondern auch für die Belastung Ihrer wechselseitigen Beziehung. Hinzu kommen noch die Auswirkungen auf Ihre eigene Gesundheit, die sich auf längere Sicht garantiert einstellen werden. Mit anderen Worten: Wollen Sie konform handeln oder Ihre Integrität wahren?
Ein Teil Ihres Dilemmas besteht darin, dass Sie selbst in einer Gesellschaft aufgewachsen sind, die besonders bei Kindern und Jugendlichen in erster Linie auf Konformität setzt und Menschen, die Verantwortung für ihr eigenes Leben übernehmen, als anstrengend empfindet. Abgesehen von der Notwendigkeit, eine Entscheidung zu treffen, die womöglich große soziale und ökonomische Veränderungen mit sich bringt, müssen Sie nun auch die Werte infrage stellen, die Ihre Kindheit und Jugend geprägt haben.
Die öffentliche Debatte um »Kinder und Stress« ist meiner Meinung nach jahrelang zu eindimensional geführt worden. Man hat den Eltern vorgeworfen, sie seien zu viel mit Beruf und Karriere beschäftigt und nähmen sich zu wenig Zeit (das magische Wort) für ihre Kinder, oder sie machten ihre Kinder zu einem ehrgeizigen Projekt und stellten zu hohe Anforderungen an schulische Leistungen und Freizeitaktivitäten. Viele Eltern haben sich von diesem Vorwurf sehr unter Druck gesetzt gefühlt (Schuldgefühle und ein schlechtes Gewissen sind, wie Sie ja selbst bereits festgestellt haben, bedeutsame Stressfaktoren).
Doch ist das Phänomen sehr viel komplexer, als die meisten glauben, und es scheint äußerst zweifelhaft, jemandem dafür die »Schuld« in die Schuhe zu schieben. In der Terminologie meines Fachs wird Stress als »systemisches Phänomen« bezeichnet. Das bedeutet, dass die
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