Vier Werte, die Kinder ein Leben lang tragen
persönlich zusammenzutreffen. Auf der anderen Seite ähnelt Ihre Beschreibung vielen anderen, die ich im Laufe der Zeit gelesen und gehört habe. Meine vorsichtige Vermutung ist daher, dass Sie so glücklich sind, ein Kind bekommen zu haben, das ich mit dem Ausdruck »autonom« bezeichne.
Nachdem ich viele Jahre Bedenken hatte, über diese Art von Kindern zu reden und zu schreiben, habe ich mich letztlich doch dazu entschieden. Teils weil viele Eltern so verzweifelt und erschöpft sind wie Sie, teils weil diesen Kindern entweder eine offizielle Diagnose aufgepfropft wird und / oder weil ihre Eltern der unglückseligen Tendenz zum Opfer fallen, es ganz traditionell mit dem Setzen von Grenzen zu versuchen.
Doch Grenzen zu setzen ist bei diesen Kindern das Schlimmste, was man tun kann.
Wenn ich diese Kinder in von mir geleiteten Fachgruppen in ganz Europa beschreibe, reagieren circa 10 Prozent der Teilnehmer mit »So ein Kind habe ich auch!« oder »So ein Kind war ich selbst!«. Es gibt also einige Kinder und Eltern, die dasselbe wie Sie erleben.
In sehr komprimierter Form lässt sich Folgendes über diese Kinder sagen: Sie werden oft »fertig« geboren, ohne Babyspeck, mit wohldefinierten Muskeln und einem Gesicht, das bereits Persönlichkeit hat. In ihrer motorischen Entwicklung sind sie Gleichaltrigen oft mehrere Wochen voraus, und der Wille zur Selbstständigkeit steht ihnen von Beginn an quasi ins Gesicht geschrieben. Sie weisen oft die Art von Zärtlichkeit zurück, die andere Babys lieben, und sind unempfänglich für das, was wir gemeinhin als »Erziehung« bezeichnen. circa die Hälfte von ihnen zeigt in Kindergarten und Schule ein anderes Verhalten, während die anderen sowohl innerhalb als auch außerhalb der eigenen vier Wände als sehr anstrengend und »schwierig« empfunden werden.
Die Eltern dieser Kinder sind oft verzweifelt darüber, was eine Mutter einst folgendermaßen beschrieb: »Ich habe das Gefühl, dass ich sie nicht auf dieselbe Art und Weise lieben kann wie meine anderen Kinder.« Diese Eltern haben, so wie Sie, oft alles versucht, ohne den geringsten Erfolg. Denn autonome Kinder lassen sich nicht so schnell »kleinkriegen«, und im Gegensatz zu den meisten anderen Kindern ziehen sie sich eher von den Eltern zurück, als sich ihnen zu unterwerfen. Das hört sich jetzt vielleicht sehr »dramatisch« an.
Doch wenn man ihre Persönlichkeit verstanden hat, dann ist das Zusammenleben mit ihnen ebenso lehrreich wie vergnüglich.
Ihre Tochter hat es eigentlich von Anfang an klar zum Ausdruck gebracht: »Ich gebe und nehme, wie es mir passt und wann es mir passt. Ihr könnt es mit allen erdenklichen Arten der Motivation und Manipulation versuchen, aber ich garantiere euch, dass ihr damit nichts erreichen werdet. Eigentlich habe ich gar keine hohen Ansprüche – ich will einfach nur geliebt und so respektiert werden, wie ich bin, denn anders sein kann ich beim besten Willen nicht.«
Hätte Ihre Tochter dies von Anfang an mit Worten sagen können, dann hätten Sie vermutlich voller Freude geantwortet: »Aber natürlich, mein Schatz, du bist uns herzlich willkommen! Wir werden unser Bestes tun.« Aber das konnte Ihre Tochter natürlich nicht, deshalb bedurfte es eines fünfjährigen erschöpfenden Kampfes, bevor Sie einen Großteil Ihrer Kräfte und Vorstellungen davon verbraucht haben, wie Ihr Kind eigentlich sein sollte.
Mit Ihrer Familie ist alles in Ordnung. Alle autonomen Kinder, die ich kennengelernt habe, hatten starke, liebevolle, verantwortungsvolle und empfindsame Eltern; aus familientherapeutischer Sicht fehlt Ihrer Familie nichts. Es ist ganz normal, dass Kinder darum kämpfen müssen, als diejenigen gesehen zu werden, die sie sind, doch für die meisten beginnt der ernsthafte Kampf erst in der Pubertät oder später – bei manchen erst nach vielen, vielen Jahren.
Wenn Sie – nachdem Sie dies gelesen haben – der Meinung sind, dass Sie ähnliche Erfahrungen gemacht haben, und der Tatsache ins Auge sehen, dass Sie genau so eine Tochter haben, dann ist der Rest des Weges nicht mehr besonders schwierig zu meistern.
Sie sollten sich zunächst bei einer Kanne Kakao und dem Lieblingskuchen Ihrer Tochter mit ihr zusammensetzen und ungefähr Folgendes sagen: »Fast fünf Jahre lang haben wir geglaubt, immer genau zu wissen, was das Beste für dich ist und was für ein Mensch du sein sollst. Das hat leider zu vielen Kämpfen zwischen uns geführt, und diese Kämpfe haben uns alle drei
Weitere Kostenlose Bücher