Vier Zeiten - Erinnerungen
Koalition seien. Parteibuchwirtschaft ist ohne Zweifel ein verbreitetes
Übel, und die Senatskanzlei von Berlin war davon gewiß nicht verschont geblieben. Dennoch hatte ich weder die Absicht noch je den allergeringsten Grund, mich für das persönliche Verhältnis meiner Mitarbeiter zu politischen Parteien zu interessieren. Es hat ihnen nie an der Loyalität oder an der stets notwendigen Bereitschaft zu offener, kritisch konstruktiver Beratung im Dienste gefehlt.
Dankbar war ich auch dafür, daß ein für die Stadt besonders wichtiges Thema weitgehend von einem Parteienstreit ferngehalten werden konnte, nämlich unser Verhältnis zu den unter uns lebenden zahlreichen Ausländern. Ich schuf das Amt eines Ausländerbeauftragten beim Senat und hatte das große Glück, daß Barbara John meiner Einladung folgte, diese überaus schwierige Aufgabe zu übernehmen. Mit nüchterner Vernunft und mit Herzenswärme versieht sie ihre Arbeit nun seit über fünfzehn Jahren. Sie ist zu einem Vorbild im ganzen Bundesgebiet geworden und trägt ganz maßgeblich dazu bei, den alten Ruf Berlins nicht verkommen zu lassen, daß die Stadt in ihren guten Zeiten stets aufgeschlossen für Zuwanderer aller Art und Himmelsrichtungen war.
Die größte Gruppe bildeten die Türken. Es gab Wohnviertel, die sie ganz beherrschten, und zahlreiche Schulklassen, die von ihren Kindern dominiert waren. Darüber äußerten deutsche Eltern mancherlei Klagen. Im Bezirk Kreuzberg besuchte ich eine Schule, auf der mir die Elternvertretung vorhielt, die türkischen Kinder kämen im Unterricht schlecht mit und drückten dadurch das Niveau der Klasse nach unten. Drei Jahre später besuchte ich dieselbe Schule noch einmal. Wieder klagten die Eltern, diesmal aber in umgekehrter Weise: Die jungen Türken würden ihren deutschen Mitschülern die Preise verderben, denn sie würden fleißiger Schularbeiten machen und hätten ein Zuhause, das ihnen nachdrücklich helfe. Dadurch erlangten sie Wettbewerbsvorteile. Es war eine wahrhaft enthüllende Beschwerde deutscher Eltern, die ihre Selbstanklage gar nicht richtig merkten.
Gerade unter den Berliner Türken habe ich auch meine Auffassungen von der dringenden Reformbedürftigkeit des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts gewonnen. Dieses Recht stammt aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Die Lebenswirklichkeit unserer Gegenwart hatte damals niemand vor Augen. Je länger, desto mehr hat ein ius sanguinis gegenüber dem ius soli seinen guten Sinn verloren. Soll es denn wirklich den bei uns in der dritten Generation geborenen Ausländerkindern noch immer erschwert bleiben, Deutsche zu werden, obwohl es für sie keine Rückkehr, sondern eine Auswanderung wäre, wenn sie in die Heimat ihrer Vorfahren gingen, wozu sie auch kaum eine Chance hätten?
In denselben Zusammenhang gehört auch die Frage nach einer doppelten Staatsangehörigkeit. Immer wieder habe ich es bei türkischen Jugendlichen erlebt, daß zwar nicht ihre Eltern oder Großeltern, wohl aber sie selbst Deutsche werden wollten, daß sie jedoch auf ihre türkische Staatsangehörigkeit nicht verzichten wollten, und zwar aus Rücksicht und Achtung vor ihren Vorfahren und um der Bewahrung des engen familiären Zusammenhaltes willen. In nicht wenigen zivilisierten Ländern gibt es dazu die Möglichkeit. Wir verschanzen uns hinter Vorwänden über Schwierigkeiten beim Wehrdienst, beim Erbrecht und ähnlichem. Das, was wir damit erzeugen, sind menschliche Spannungen in den türkischen Familien. Warum das? Bietet eine doppelte Staatsangehörigkeit wirklich die Gefahr unklarer Identitäten für den Menschen? Wachsen wir nicht ohnehin in eine Art Pyramide von Identitäten hinein, eine kommunale, eine nationale und eine europäische? Und ist dies nicht weit besser, als mit Hilfe des Staatsangehörigkeitsrechtes den Drang zu messerscharfen nationalen Abgrenzungen aufrechtzuerhalten, den uns das neunzehnte Jahrhundert beschert hat?
Einmal reiste ich zu einem längeren Aufenthalt nach Anatolien und wurde dort als Bürgermeister der größten türkischen Stadt außerhalb der Türkei aufs freundlichste empfangen. Nur
der deutsche Botschafter in Ankara begegnete mir mit sorgenvoller Miene. Er hielt meine aufgeschlossene Politik gegenüber den Berliner Türken für gefährlich: Der heldenhafte Widerstand der Wiener gegen die Türken vor dreihundert Jahren am Kahlen Berg werde sich in der Geschichte als vergeblich erweisen. Denn dank meiner Politik werde Berlin in hundert
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