Vier Zeiten - Erinnerungen
die Weiterentwicklung der Rechtsordnung, um denen, »die eine andere Form der Lebensgestaltung suchen, den dafür notwendigen Gestaltungsraum zu gewähren und zu schaffen«. Er vertrat die Auffassung, daß das Lebenskonzept der Hausbesetzer »dem biblischen Zeugnis näherstehen könnte als das normale egoistische Lebenskonzept der Wohlstandsgesellschaft«.
In zahlreichen Fällen hatte er damit recht. Uns im Senat konnte es aber nicht um eine Veränderung des Rechts gehen, sondern um seine Anwendung im Sinne des Friedens. Dafür war
eine ebenso öffentliche wie offenherzige Auseinandersetzung über die tiefer gehenden Ursachen der Spannungen in der Gesellschaft notwendig. Das war der Sinn des runden Tisches, und er bestand die ihm zugedachte Bewährungsprobe auf eindrucksvolle Weise. Niemand hatte sich der Einladung versagt. Bischof Kruse und die jüdische Gemeinde mit ihrem altbewährten Vorsitzenden Heinz Galinski, der katholische Generalvikar, der Handwerkskammerpräsident Blaese und die Gewerkschaften, die Industrie- und Handelskammer und der Mieterbund, alle miteinander trugen dazu bei, die explosive Situation in eine Atmosphäre der Mäßigung überzuleiten. Nie zuvor hatte ich eine solche Tatkraft und Bereitschaft zur Mitverantwortung quer durch die Gesellschaft erlebt. Allmählich besserte sich die Gemütslage in der Stadt fühlbar. Noch waren nicht alle Hindernisse für einen Rechtsfrieden beseitigt, aber er breitete sich Schritt für Schritt aus. Von den einhundertneunundsechzig besetzten Häusern zu Beginn meiner Zeit als Bürgermeister war an ihrem Ende nur noch ein Zehntel unerledigte Objekte verblieben.
Das andere schwerwiegende interne Berliner Problem war die Lage auf dem Arbeitsmarkt. Wir kamen nicht heraus aus der jahrelangen Rezession. Die Prozentzahl der Arbeitslosen in der Stadt überschritt den Bundesdurchschnitt nachhaltig. Der zweitgrößte private Arbeitgeber mit seinen zehntausend Beschäftigten, die AEG, war vom Konkurs oder jedenfalls von der Schließung seiner Berliner Betriebe bedroht. Vor einer von über zweitausend Arbeitnehmern besuchten Betriebsversammlung in der Weddinger Brunnenstraße die täglichen Kämpfe um die Erhaltung ihrer Betriebe zu erklären, war für mich schon deshalb schwierig, weil niemand vom Vorstand der AEG erschienen war. Mit Mühe gelang es, am drohenden Unheil vorbeizusteuern.
Es hatte zu einer Tradition der früheren Politik in West-Berlin gehört, den Arbeitsmarkt dadurch zu entlasten, daß immer neue Stellen im öffentlichen Dienst geschaffen worden waren,
ohne daß immer ein ausreichender Bedarf dafür vorlag. Da der Berliner Etat aber unter der legitimen und wachsenden kontrollierenden Strenge des Bonner Haushaltsausschusses und Finanzministers stand, mußten wir einschneidende Sparmaßnahmen beschließen. Manche davon waren freilich auch überfällig. Ich traute meinen Ohren nicht, als der für die Verkehrsbetriebe zuständige Kollege uns einen Senatsbeschluß vorschlug, wonach die Schülerermäßigungskarten in den öffentlichen Nahverkehrsmitteln denjenigen Studenten zu entziehen seien, die bereits das achtzehnte Semester an den Hochschulen hinter sich hatten.
Auf zwei Millionen Einwohner gab es damals ungefähr einhundertfünfzigtausend Sozialhilfeempfänger. Gemäß den Anregungen von Senator Fink versuchten wir es auch hier mit neuen Maßnahmen, für die es bisher keine Vorbilder im Bundesgebiet gab: zumutbare Arbeiten wurden angeboten; wer sie grundlos ablehnte, mußte die Folgen bei der Sozialhilfe tragen. Es gelang, die Zahl der Ausbildungsplätze auf vierzigtausend zu erhöhen und den investiven Anteil des Landeshaushalts deutlich zu steigern.
Ein wichtiger Bestandteil der Senatsarbeit diente dem Ziel, die Planungsarbeiten für die Stadt mit den Maßnahmen für den Schutz von Natur und Mensch nicht in zwei verschiedene, oft rivalisierende Ämter zu geben, sondern in einer Behörde zusammenzufassen. So entstand die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz. Die inspirierende Arbeit des Senators Volker Hassemer in diesem Amt trägt bis heute ihre Früchte.
Zwischen den Parteien gab es im Parlament, wie es sein muß, gehörigen Streit, daneben aber auch immer wieder konstruktive Zusammenarbeit. In meiner eigenen Behörde, der Senatskanzlei, arbeiteten ungefähr sechshundert Bedienstete. Mir wurde gleich zu Beginn übermittelt, daß fast alle von ihnen eingeschriebene Mitglieder der Parteien der vor uns regierenden sozialliberalen
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