Vier Zeiten - Erinnerungen
der Schüler für unser Gespräch. Da stand ein Junge auf. Und so, als ob er gerade »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten« auswendig gelernt hätte, verkündete er strahlend: »Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht.« Auf meine Rückfrage, was er denn damit meine, antwortete er genauso vergnügt, das wisse er nicht. Keiner der Schüler wußte es. Der Lehrer kam ihnen zu Hilfe und erklärte es mir: Es habe eine monatelange Auseinandersetzung im Bezirk über die Trassenführung einer neuen Autobahn gegeben. Er und manche Schülereltern hätten vergeblich für eine bestimmte Lösung gekämpft. Überall seien sie unterlegen, zuletzt in zwei Gerichtsinstanzen. Das sei Unrecht, und daher werde Widerstand zur Pflicht.
Dieses Erlebnis habe ich nie vergessen. Was soll aus unserem Rechtsstaat werden, wenn Lehrer den ihnen anvertrauten unmündigen Kindern Sprüche einimpfen, die die Kleinen nicht begreifen, geschweige denn beurteilen können? Zuerst ist es Spiel, dann wird es ernst, nämlich ernst mit dem Unwissen über die Aufgabe und den Sinn des Rechts. Gewiß tut ein Lehrer gut
daran, seine Schüler nicht zu blindem Gehorsam zu erziehen, sondern ihren kritischen Geist und auch ihre Courage zum Widerspruch zu fördern. Wesentlicher Bestandteil seiner Verantwortung aber ist es, ihnen zu erzählen, mit wieviel Mühe und Opfern sich eine demokratische Rechtsordnung erst durchsetzen ließ und daß das Recht gerade deshalb der Achtung bedarf, weil es der Willkür jeder Obrigkeit wehrt und weil der Schwache ohne das Recht gegenüber dem Starken hilflos bleibt.
Mit solchen scheinbar trivialen Gedanken stand es damals auf der Kippe, als ich mein Berliner Amt antrat. Mit seinen Ideen zur Trassenführung der Autobahn in Reinickendorf mag mein Lehrer ja einer höheren Gerechtigkeit entsprochen haben, so wie auch manche Hausbesetzer. Die sozialen Spannungen, die Wohnungsnot, die Suche vieler Menschen nach neuen, eigenen Lebensformen, die Gegensätze zwischen Jung und Alt, das alles hatte die Atmosphäre in der Stadt tief gestört. Aber das machte den Respekt vor den Regeln des Umgangs miteinander ja nicht überflüssig. Der Rechtsstaat ließ sich nun einmal nicht so lange beurlauben, bis die Konflikte zwischen den Generationen gelöst sein würden. Es war demnach eine Aufgabe von zentraler Bedeutung, die befriedende Wirkung des Rechtes verständlich zu machen. Erreichen ließ sich dies nur durch seine ebenso behutsame wie unbeirrbare Anwendung.
Die wichtigste Probe auf das Exempel waren die besetzten Häuser. Es war eine schwere Arbeit. Öffentlich und intern bis in lange Senatssitzungen hinein wurde gestritten. Es gab Modelle von sogenannten Instandbesetzungen, die ihre Wirkung nicht verfehlten. Bei ihnen leisteten Besetzergruppen selbst die notwendigen Sanierungsarbeiten. Bausenator Rastemborsky bemühte sich mit Hingabe und mit Mut um legalisierbare Lösungen für die okkupierten Objekte.
Zugleich hatten wir klargestellt, daß jedes bisher leerstehende und nun neu besetzte Haus am selben Tag geräumt würde. Bei den allzulange unlösbar erscheinenden Fällen wurde auf rasche
Räumung gedrängt. So kam es knapp drei Monate nach der Amtsübernahme durch den neuen Senat zur ersten harten Zwangsräumung von acht besetzten Häusern. Die Aktion war durch die »Berliner Linie« rechtlich gedeckt, die mein Senat von unseren Vorgängern übernommen hatte. Schwer überschattet wurde sie durch den tödlichen Unfall eines jungen Westdeutschen, der in der Wirrnis von Krawallen durch einen zurücksetzenden Autobus der Berliner Verkehrsbetriebe überfahren wurde.
Daraufhin kam es zu neuen Demonstrationen und Ausschreitungen. In der frisch entfachten krisenhaften Zuspitzung wurden die zahlreichen Gespräche und Verhandlungen unterbrochen, mit denen legal haltbare Verträge angesteuert wurden.
In dieser Lage lud ich die Vertreter der Parteien und Kirchen, der Verbände und Gruppen zu einem großen runden Tisch ein. Gewiß sollte und konnte niemand dem Senat die Pflicht der Entscheidungen abnehmen. Für die Chancen eines dringend notwendigen Friedens in der Stadt war jedoch die Bereitschaft zur Mitberatung und Mitverantwortung aus allen Teilen der Bevölkerung unentbehrlich.
Die Standpunkte gingen weit auseinander. Selbst mit meinem von mir hochgeachteten und stets freundschaftlich verehrten Berliner evangelischen Bischof Martin Kruse gab es ein Problem. In einem Hirtenbrief setzte er sich für Minderheiten ein und forderte
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