Vier Zeiten - Erinnerungen
pflegen, »ergebnisorientiert« zu.
Grundsatzdebatten gab es selten. Dabei sind sie manchmal nötiger als der alltägliche Disput. Ich denke an eine ungelöst gebliebene Auseinandersetzung mit Scholz über das Verhältnis von Recht und Gnade. Weil mich die Entwicklung des Gnadenrechts im säkularen Rechtsstaat ständig beschäftigt hat und weil Gnadenfälle niemals als Routine behandelt werden dürfen, suchte ich Klärungen. In Berlin fällt die Praxis der Begnadigung, von kleineren Straftaten abgesehen, in die Kollegialzuständigkeit des Senats. Dadurch kam es unter uns mehrfach zu offenen, leidenschaftlichen, die ganze Tagesordnung umwerfenden Debatten. Scholz als Justizsenator fühlte sich legitimerweise verantwortlich für rechtlich meßbare und vergleichbare Gnadenentscheidungen, im Ergebnis also für eine wachsende Verrechtlichung der Gnade. Mir ging schon die Bezeichnung Gnadenrecht gegen den Strich. Natürlich wußte auch ich, daß der Volksmund die Lage unseres Rechtsstaates nicht mehr zutreffend beschrieb, wenn er von »Gnade vor Recht« sprach. Man müßte heute eher sagen »Gnade nach dem Recht«. Sie kann zum Zuge kommen, wenn der Rechtsstaatlichkeit Genüge getan ist. Ein Gnadenerweis ist kein Ersatz für ein vorgeschriebenes Strafverfahren, kein Widerruf eines Urteils, keine Rehabilitierung.
Weder mit dem christlichen Gedanken der Gnade noch mit ihrer Praxis durch einen absolutistischen Herrscher haben wir es heute zu tun. Zu seiner Zeit nannte Immanuel Kant die Gnade »unter allen Rechten des Souveräns das schlüpfrigste«. Er ging
von Gefahren der Willkür aus, die wir nicht mehr kennen. Wir leben im Rechtsstaat. Was heißt das für die Gnade? Ist sie überflüssig, ja systemfremd unter der Herrschaft des demokratisch gehandhabten Rechts? Kann sie allenfalls nur noch eine Rolle nach abstrahierten generellen Regeln spielen, quasi gesetzlich vorgeschrieben, womöglich nur noch von den Gerichten selbst zu handhaben, die schon die Strafurteile gesprochen haben? Eben diese Entwicklung scheint mir mehr eine Gefahr als ein Segen zu sein. Gustav Radbruch, der große Lehrer des Rechts und der Gerechtigkeit aus der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts, auf den sich unser Bundesverfassungsgericht noch heute immer wieder beruft, nennt Gnade »das gesetzlose Wunder innerhalb der juristischen Gesetzeswelt«, ein Wunder, das auf der »unverhohlenen Anerkennung der Fragwürdigkeit allen Rechts« beruht. Als Vorkämpfer des Rechtsstaates war Radbruch ein Vorbild. Er war damit um so eindrucksvoller, weil er die menschlichen Grenzen in unserem freien Handeln als Gesetzgeber oder Richter nicht übersah.
Das Recht ist ein wichtiger, aber nicht der einzige Maßstab für Gnade. Sie achtet das Recht, ohne ihm unterworfen zu sein. Sie zuzuerkennen oder zu versagen gehört zum Schwersten. Auch im säkularen Rechtsstaat kann sie letzten Endes nicht in Richtlinien, sondern nur in der Tiefe des Gewissens dessen verantwortet werden, in dessen Hand die Begnadigung liegt. Daher bleiben Gnade und Recht aufeinander bezogen in einem notwendigen Spannungsverhältnis. Und so blieb es auch in der Senatsdiskussion zwischen Scholz und mir. Für seine harte, scharfsinnige und zugleich faire Argumentation bin ich ihm stets dankbar geblieben, zumal später, als ich mit den schwersten Gnadenentscheidungen im Falle ehemaliger RAF-Terroristen zu tun hatte.
Fragen des Rechts standen von Beginn an im Zentrum unserer Senatsarbeit. Das Kernproblem waren die besetzten Häuser. Es führte gar kein Weg an der Erkenntnis vorbei, daß es die Bauund
Wohnungspolitik selbst gewesen war, die bei nachhaltigem Bedarf an Wohnraum durch allzu langwierige Verfahren immer neue, provozierend wirkende Leerstände geschaffen und dadurch zu illegalen Hausbesetzungen förmlich eingeladen hatte. Es waren Freiräume, aus denen nun rechtsfreie Räume entstanden waren.
In meiner ersten Regierungserklärung hatte ich die Berliner Linie meines Vorgängers der Sache nach gewürdigt, zugleich aber angekündigt, daß bei allem Verständnis für die Entstehungsgründe der Lage unser oberstes Gebot laute, den Rechtsfrieden konsequent wiederherzustellen, also einen Frieden durch das Recht, nicht neben ihm.
Solche rechtsstaatlichen Allerweltswahrheiten anzusprechen war in Berlin bitter nötig geworden. Bald nach meiner Wahl zum Regierenden Bürgermeister besuchte ich eine Schule im Bezirk Reinickendorf. In einer großen Klasse von Elfjährigen fragte ich nach den Wünschen
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