Vier Zeiten - Erinnerungen
Jahren keine christliche Stadt mehr sein, sondern eine muslimische. Ich lud ihn ein, nach Berlin zu kommen, um sich davon zu überzeugen, daß die meisten türkischen Jugendlichen sich schon heute weit mehr den gar nicht so übertrieben christlichen jungen Deutschen annäherten, als bei den religiösen Überlieferungen ihrer Familien zu verharren. Natürlich gelte es, aufzupassen, wie sich eine Re-Islamisierung der ursprünglich kemalistischen Türken in ihrer Heimat auf Auslandstürken auswirken würde. Bei uns in Deutschland und zumal in Berlin sei aber eine Entwicklung zu gemeinsamer Säkularisierung das wahrscheinlichste.
Der eigentliche Konflikt in den türkischen Familien lag nicht zwischen den jungen Türken und den jungen Deutschen, die gemeinsam die Schule und Berufsausbildung erlebten und in den allermeisten Fällen gute Arbeitskollegen wurden. Schwierig war es dagegen oft für die türkischen Väter, wenn sie ihre Töchter nicht mehr nach ihrer Tradition heranwachsen sahen, sondern mit denselben Ausbildungs- und Berufszielen wie bei den deutschen Mädchen.
Der renommierte Harvard-Professor Samuel P. Huntington sagt uns den »clash of civilisations« voraus, in dem er die Ursache künftiger Kriege sieht. Seine Thesen sind so anregend wie bedenklich. Sie werden uns noch lebhaft beschäftigen. Gewiß ist es ein Unterschied, ob man sie im weltweiten Rahmen oder nur vor dem Hintergrund eines überschaubaren konkreten Gemeinwesens betrachtet. Was ich während der achtziger Jahre in WestBerlin erlebt habe, widerspricht jedenfalls Huntingtons abstrakten Prophezeiungen vom »Kampf der Kulturen« nachhaltig und ist allenfalls auf fragwürdige Weise geeignet, alte Ängste vor dem Fremden zu schüren.
Probleme gab es natürlich genug. Ein verantwortungsloses internationales Schlepperunwesen versorgte uns mit zahlreichen illegalen Asylsuchenden, die über den Schönefelder Flughafen in der DDR anreisten. Unsere ausländischen Mitbürger waren lebhaft daran interessiert, daß möglichst wenige neue Zuwanderer nach Berlin kommen, weil sie ihren »Besitzstand« nicht immer weiter teilen wollten. Kroaten hatten auch schon zu jener Zeit eine Neigung, innerjugoslawische Spannungen auf unserem Boden lautstark auszutragen. Zwischen Kurden und Türken ging es damals bei uns jedoch ebenso ruhig zu wie zwischen Griechen und Türken.
Im ganzen lebte man friedlich zusammen. Aus multikulturell wurde zumeist interkulturell. Jeder Teil pflegte die eigenen Traditionen, aber man besuchte sich wechselseitig, feierte oft miteinander und begann zu verstehen, was es bedeuten kann, sich durch Überlieferung und Lebensart der anderen zu bereichern.
Wir Deutschen sind kein besseres oder schlechteres Volk als andere. Wir haben unsere besonderen Vorzüge. Unsere Bauernhäuser, unsere Musik, zumal die großen Liederkompositionen, die museumsreife Vielfalt unserer Brotbäckerei, unsere Philosophie und manches andere sind schon oft als ein Gewinn für die Kultur der ganzen Menschheit gepriesen worden. Was aber die bedingungslose Gastfreundschaft gegenüber fremden Menschen anbetrifft, so können wir in Berlin und anderswo beherzigenswerte Lehren bei unseren türkischen und griechischen Mitbürgern empfangen. Manchmal ging ich an sommerlichen Wochenenden im Tiergarten zwischen dem Reichstag und dem Schloß Bellevue spazieren. Auf jedem Wiesenfleck dieses großen Stadtparks hatte sich eine türkische Familie niedergelassen. Nicht immer zur Freude der Behörden wurde hier gelagert, gespielt und gekocht. Ein wohltuendes Bild menschlichen Zusammenlebens bot sich dem Besucher dar, aber mehr noch: An jeder der unzähligen Kochstellen wurde man eingeladen, sich dazuzuset-zen
und etwas Gutes zu probieren. Die Freude der Türken an der Freude ihrer Gäste ist überwältigend und unwiderstehlich. Ob man erkannt wurde oder nicht, es war unmöglich, sich ihren spontanen Einladungen zu entziehen.
Der Schachweltmeister Kasparow erklärt mir eine Eröffnungstheorie mit den schwarzen Steinen. Zwischen uns mein ältester Sohn Robert, Professor der Volkswirtschaftslehre und hervorragender Schachspieler, der einmal in einer Partie gegen Kasparow ein Remis erreichte.
Neben der Arbeitswelt kam es zu zahlreichen interkulturellen Begegnungen auch im Sport. Freilich, wenn es im Olympiastadion ein Länderspiel zwischen der bundesdeutschen Mannschaft und der Türkei gab, war es für die Gäste eine Art Heimspiel. Die West-Berliner hatten in der geteilten Stadt nur
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