Vier Zeiten - Erinnerungen
haben, daß von den sich assimilierenden Juden erwartet wurde, sich den Werten und Zielen, den Gewohnheiten und dem Erscheinungsbild ihrer Umwelt gänzlich anzupassen? Daß, mit anderen Worten, Juden aufhören sollten, Juden zu sein, um dadurch die Probleme ihrer Lage als Minderheit zu lösen? Und war eine Angleichung an eine mehr oder weniger christlich geprägte Welt überhaupt möglich und wurde sie von dieser akzeptiert? Blieben nicht die Juden, selbst in dem liberalen Berlin-Wilmersdorf
meiner Kindheit, zwar Freunde, aber doch eben andere? Ja, wirkte denn nicht die Assimilation oft beinahe aufreizender als die Andersartigkeit? Wir kennen die Worte von Theodor Herzl: »Ich versuche einzugehen in die Gesellschaft und nur den Glauben der Väter zu bewahren: Man läßt es nicht zu.« Seine damalige Erfahrung war die Vergeblichkeit der Bereitschaft, ein treuer Patriot zu sein.
Bis zum Abitur 1937 waren die jüdischen Mitschüler alle noch dabei. Wir Schüler standen in unserer Klasse gegen die Welt da draußen eng zusammen. Inzwischen hatten wir alle begriffen, wie sehr sich der Himmel über Deutschland verfinstert hatte. Und doch ahnte keiner die ungeheuerlichen Folgen. Unbegreiflich und unsagbar folgenschwer blieb die geringe Kenntnis, die die allermeisten in Deutschland von der jüdischen Geschichte und Identität besaßen.
Zweiter Abschnitt
Hitler und Weltkrieg
Machtübernahme. Als Diplomat im Ausland bleiben?
Noch einmal blicke ich ein paar Jahre zurück. In der Zeit von 1927 bis 1933 war Berlin für mich zum Mittelpunkt des Denkens und Fühlens, zur eigentlichen Heimat geworden und ist es bis zum heutigen Tag geblieben.
Inmitten dieser angefüllten Berliner Jahre wurde mein Vater als deutscher Gesandter nach Norwegen versetzt. Nach den Strapazen der Völkerbundjahre wurde für ihn der Aufenthalt in diesem Lande der großartigen Natur, der Freiheits- und Wahrheitsliebe, der Individualisten und Originale zur geistigen, körperlichen und menschlichen Erholung. Freundschaften wurden geschlossen, darunter vor allem mit Bischof Eivind Berggrav, dem Primas von Norwegen, der später zum Herz des Widerstandes gegen die deutsche Besatzung wurde und mit deutschen Widerstandsgruppen in enger Verbindung stand.
Von uns Kindern zog nur Schwester Adelheid mit nach Oslo um. Mit ihrer musikalischen Sprachbegabung erlernte sie rasch die norwegische Sprache. Mir wurde dort während dreier Monate ein Privatunterricht durch den schwäbischen Vikar Hermann Häberle zuteil, der mir das Vaterunser auf eine Weise deutete und nahebrachte, die allem Glaubensüberschwang oder tiefem Zweifel standhielt.
Weltweite Resonanz auf ihre großartige Literatur und Malerei hatten die Norweger am stärksten auf dem Wege über Deutschland gefunden. Politisch neigten sie dagegen mehr den Briten zu. Am liebsten konzentrierten sie sich auf den Skandinavismus.
Dennoch hatten meine Eltern politische Spannungen in Norwegen zunächst nicht zu bestehen.
Um so dramatischer überstürzten sich die Ereignisse in Deutschland. Als zwölfjähriger Schüler wohnte ich bei Freunden meiner Eltern in Berlin. Der 30. Januar 1933 rückte heran, und ich erlebte sein Signal auf eine Weise mit, die sich in der Erinnerung fest eingeprägt hat. Ein Onkel hatte mich zu einem Reit- und Fahrturnier in den Sportpalast eingeladen. Freudig erregt war ich gekommen, weil ich so etwas noch nie gesehen hatte.
Mitten in einem atemlos verfolgten Springwettbewerb sprangen plötzlich von allen Seiten Zeitungsverkäufer durch die Reihen der Tribünen und brüllten die Überschrift ihres Extrablattes heraus: »Hitler berufen!« Sowenig ich die Bedeutung dieser Nachricht sachlich bewerten konnte, so war mir doch sofort bewußt, daß es etwas ungeheuer Aufregendes für uns in Berlin und für die Eltern in Norwegen sein würde. Entsprechend war die allgemeine Reaktion in der Halle.
Aber die Eltern waren fern. Mein Leben als Schulbub ging eben einfach weiter. Die Atmosphäre erschien undurchsichtig. Im sogenannten gebildeten Bürgertum gab es noch immer kaum ein Gespür für die Bewegungen und Ressentiments in tieferen Schichten der Gesellschaft und ebensowenig für die Hohlräume in der eigenen konservativen Denkweise. Viele der Ahnungsvollen waren seltsam waffenlos.
Weithin hatte man die »Bewegung« unterschätzt. Für ihr Programm und Ziel hatte es ja genug einschlägige Texte gegeben, aber man hatte sie nicht ernst oder gar nicht erst zur Kenntnis genommen. Von »Schulbuben, die
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