Vier Zeiten - Erinnerungen
überall in Berlin entgegen. Täglich kamen die Hofsänger und Leierkastenmänner auf die Hinterhöfe der Mietshäuser und bettelten um Unterstützung und auch um Brot. Meine Mutter nahm mich gelegentlich in den Stadtteil Neukölln mit, wo sie sich als Hilfsvormund um uneheliche Kinder kümmerte.
Durch solche Eindrücke von wachsender Armut und einer Not, die den Anstand, die Gesundheit und das Leben bedrohte, öffneten sich mir die ersten bewußten Blicke über den Horizont der Familie hinweg in die allgemeinen Verhältnisse. Die Folgen der Arbeitslosigkeit ohne materielle Versorgung waren verheerend. Auch für mich im Kindesalter war erkennbar, daß es kein gedeihliches Zusammenleben mehr geben kann, wenn der Abstand zu groß wird zwischen dem, was die einen Menschen brauchen, aber entbehren müssen, und dem, was andere ganz selbstverständlich zur Verfügung haben. So kam es bei mir zu
einer Anteilnahme an politischen Problemen primär im sozialen Bereich. Erst später traten die bewußt wahrgenommenen auswärtigen Beziehungen anhand des Diplomatenlebens meines Vaters hinzu. Beides unterscheidet sich nicht so scharf, wie es auf Anhieb scheint. Denn die Voraussetzungen des Zusammenlebens sind sich zumeist gar nicht so unähnlich.
Auf der Berliner Grundschule wurde mir das dritte Schuljahr geschenkt; ich durfte es überspringen. Mit neun Jahren kam ich auf das humanistische Bismarck-Gymnasium in Berlin-Wilmersdorf. Latein und Mathematik lagen mir weniger als Griechisch und Geschichte, Sport und Musik. Aber man lebte auf der Schule in keiner abgeschlossenen Welt. Wir begannen, als Kinder Zeitungen zu lesen und über die Schlagzeilen, die wir aufgeschnappt hatten, in den Unterrichtspausen zu diskutieren. Natürlich übertraf die Neugier bei weitem das Verständnis. Wir registrierten, daß die Arbeitslosenzahl auf sieben Millionen stieg, daß im Herbst 1930 107 Nationalsozialisten und 80 Kommunisten in den Reichstag gewählt wurden. Ich besinne mich deutlich unserer ebenso unreifen wie erregten Debatten über die Zeitläufte.
Den führenden Anteil daran hatten die jüdischen Mitschüler, fast die Hälfte der Klasse. Es waren zumeist Kinder von Ärzten und Anwälten, von Kaufleuten und Wissenschaftlern. In dieser Endphase der Weimarer Republik diskutierten wir nun gemeinsam eifrig über die beinahe täglichen Berliner Straßenkämpfe zwischen rechts und links - wir waren zumeist gegen beide -, über die unablässigen Reichstagswahlen und mit naiver Leidenschaft selbst über neue Kabinettslisten für die Regierungen. Ganz gewiß waren wir unmündig genug, aber eine Ahnung von der wachsenden Brisanz der Zeiten hatten wir durchaus. Dennoch nahm uns dies nicht die kindliche Fröhlichkeit und vor allem auch nicht die gänzliche Unbefangenheit untereinander.
Von dem tradierten, nicht nur in Deutschland weitverbreiteten Antisemitismus ahnte ich als Berliner Schulkind in der späten
Weimarer Zeit kaum etwas. Dennoch mußte ich mich später fragen: Was hatte ich trotz dieses engen täglichen Zusammenlebens von jüdischer Religion, Geschichte und Identität schon gewußt oder wenigstens dabei gelernt? Fast nichts. Man spürte, daß es Unterschiede gab. Aber man schloß sich gegenseitig nicht aus. Wir besuchten uns ungezählte Male in den Familien und diskutierten sogar gelegentlich untereinander, ob es ratsam sei, später die Schwester eines Mitschülers aus dem anderen Umfeld zu heiraten. Auch lernte ich natürlich die Namen bedeutender jüdischer Persönlichkeiten kennen, die die Kultur, die Wissenschaft und Wirtschaft in Deutschland und das Ansehen unseres Landes in der ganzen Welt maßgeblich prägten. Als ich Anfang der siebziger Jahre zum ersten Mal das Treppenhaus des Leo-Baeck-Institutes in New York hinaufstieg und dort der Porträtgalerie dieser großen Menschen begegnete, da war der Eindruck für mich nur um so tiefer und erschütternder, als ich die meisten Namen von meiner Kindheit her kannte.
Und dennoch wußte ich allzu wenig von inneren Spannungen und Spaltungen, von Schwierigkeiten jüdischer Selbstbehauptung und von Gefahren einer Selbstaufgabe.
Wer meiner jüdischen Mitschüler war einer Zerreißprobe zwischen dem Leben in der eigenen Familie und Religion und der täglichen Gegenwart in der Schule und ihrer Kultur ausgesetzt? Oder gab es andere, bei denen zu Hause Konflikte mit der Assimilation vorherrschten, jenem so lange als akzeptiert erscheinenden Postulat? Welche bedeutungsschweren Folgen mochte es
Weitere Kostenlose Bücher