Vier Zeiten - Erinnerungen
Gewalt in die Prager Burg eingezogen, sagte Havel am Telefon. Am kommenden 15. März 1990, einundfünfzig Jahre später, wolle er gern zusammen mit mir denselben Weg in Frieden gehen. Was konnte man da noch sagen?
Zusammen mit Genscher fuhr ich in die tschechoslowakische Hauptstadt. Im großen gotischen Saal der Burg fand eine Feier statt. Der alte Maestro Václav Neumann dirigierte die Symphonie »Aus der Neuen Welt« von Dvořák. Es war schwer, in den Ansprachen, die wir austauschten, die Bewegung zu verbergen. Danach gab Havel einen Empfang, umgeben von seinem »Hofstaat«, lauter Künstlern, Kritikern und Freiheitskämpfern. Sein Büro glich bereits einem Atelier zeitgenössischer Kunstwerke, die die Schreibtische und Telefone fast unsichtbar machten.
Dennoch war Havel mit der Einrichtung unzufrieden und bat mich um eine doppelte Hilfe, einerseits bei der Beschaffung angemessener Möbel und andererseits um sachverständige Techniker, die die versteckten Abhöreinrichtungen unschädlich machen könnten.
Danach trat er mit mir einen Fußmarsch von der Burg hinunter zur Moldau an, inmitten eines fröhlichen großen Durcheinanders von Bürgern, Presseleuten und einigen Sicherheitsbeamten. Plötzlich hielt er mich am Ärmel fest und schwenkte mit mir rasch auf eine kleine Tür an der Straßenseite zu. Sie führte uns in eine Wirtschaft, die eine konspirative Zelle in der Zeit der Diktatur gewesen war. Im kleinsten Kreis tranken wir dort zusammen das gute Bier.
Am 15. März 1939 war Hitler unter Bruch des Münchner Abkommens in die Tschechoslowakei einmarschiert. Hier, wo Hitler einst seinen trügerischen Triumph gefeiert hatte, lud mich Václav Havel wenige Tage nach seiner Amtsübernahme ein, am 15.März 1990 Hand in Hand mit ihm und friedlich in die Prager Burg zu gehen. Wir sprachen vom Balkon aus und waren von der warmen Aufnahme durch seine Landsleute bewegt. Wie kein anderer veränderte Havel das verfeindete Nachbarschaftsverhältnis zum Guten.
Aber noch waren die Überraschungen nicht vorüber. Er weihte mich in eine Sorge ein. Bevor er an seine Präsidentschaft hätte denken können, habe er seine Zusage für den Eröffnungsvortrag bei den nächsten Salzburger Sommerfestspielen gegeben. Jetzt sei er Präsident, und seine Mitbürger würden die Welt nicht mehr verstehen, wenn sie auf dem Bildschirm einen großen Empfang für ihn durch den in Prag nicht eben beliebten österreichischen Präsidenten Waldheim anschauen müßten. Was solle er mit seiner Zusage nun machen? Er druckste so lange an der Sache herum, bis ich ihm den Vorschlag machte, auf den er insgeheim zugesteuert hatte. Ich entwickelte ihm den Plan, er sollte zunächst als mein Gast nach Bayreuth kommen. Dann würden wir gemeinsam in einer deutschen Maschine nach Salzburg fliegen. Gedacht, besprochen, getan. In Salzburg marschierten wir nebeneinander durch ein großes Spalier von freundlichem Publikum auf die Felsenreitschule zu, beinahe Hand in Hand wie Hänsel und Gretel im Wald. Und dort, wo uns Waldheim in der Halle auf das freundlichste begrüßte, war ein so unbeschreibliches Geschubse und Gedränge von Fotografen, daß es keinem von ihnen gelang, eine von Havel etwas befürchtete herzliche Begrüßungshalbumarmung auf dem Bilde festzuhalten.
Es folgte eine seiner denkwürdigen Reden über die Freiheit. Er sprach von der mythischen Gestalt des Griechen Sisyphos, der täglich einen Felsblock den Berg hinaufwälzen muß, welcher ihm dann immer wieder in den Abgrund entgleitet. So habe er, Havel, das Leben in der Unfreiheit ständig empfunden. Doch siehe da, eines Morgens sei der riesige Stein auf einmal oben liegengeblieben. Der verstörte Held fragt: »Was machen wir nun?« Und dann folgten Havels Gedanken, wie wir es schaffen, zu bestehen in der geschenkten Freiheit mit allen ihren Ablenkungen und Verführungen. Mit seinem scharfen Blick für die Schwächen
der Menschen unter den Bedingungen der Freiheit sprach er vom politischen Engagement und der Bürgergesellschaft, vom demokratischen Gewicht der kleineren regionalen Einheiten, von der Kultur, ohne die uns die sittlichen Maßstäbe und die spirituelle Dimension fehlen. Die Freiheit verändert alles.
So schlägt Havel sich durch in einer Welt zu Hause und ringsherum, die sehr wohl weiß, was sie an ihm hat und die doch seinen Visionen nur selten entspricht. Der Wahlspruch des Prager Ministerpräsidenten Václav Klaus heißt »Tempo geht vor Sorgfalt«, eine auch bei uns und
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