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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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Winkelzügen andere Politiker aus dem Feld zu schlagen, als mit seinem Gewissen im Einklang zu bleiben. Er duldete nicht, daß politische Effektivität und ethische Prinzipientreue gegeneinander ausgespielt wurden. So machte er es sich selbst schwerer als anderen und mußte Rückschläge hinnehmen. Später diente er den Vereinten Nationen bei der Aufdeckung grausamer Verletzungen der Menschenrechte im ehemaligen Jugoslawien, um die Ausschreitungen des schrecklichen Bürgerkrieges zu mildern.
    Auf andere Weise entwickelten sich die Beziehungen zum Nachbarn Tschechoslowakei. Dort hatte die Charta 77 eine geistig und moralisch starke Kraft verkörpert, ohne eine Volksbewegung zu werden. In ihrer Mitte wirkte Václav Havel, der Denker, Schriftsteller und Theaterautor. Seine Essays und Gefängnisbriefe bezeugen, wie er unter der Diktatur um die innere Freiheit rang. »In der Wahrheit leben«, so lautete die Publikation dieses von seinem Gewissen gesteuerten Intellektuellen auf seinem Weg, in der Freiheit zu bestehen.
    Phantasie und Philosophie, Ethik und blitzender Witz verbinden sich bei ihm zu einer forschenden Suche nach der Verantwortlichkeit in der Politik.
    Ohne ihn schon zu kennen, hatte ich oft Gedanken bei ihm gefunden und zitiert, die uns im auftauenden Ost-West-Verhältnis als Kompaß dienen konnten. Eine Korrespondenz entstand, deren zentrales Dokument sein Brief an mich wurde, mit dem er seine Freude über den ihm soeben verliehenen Friedenspreis des deutschen Buchhandels und zugleich die Gründe mitteilte, weshalb er den Preis nicht selbst in Frankfurt entgegennehmen
konnte. Die Prager Kommunisten, die ihn so oft und so lange eingesperrt hatten, wollten ihn nur ausreisen, aber nicht zurückkehren lassen. Der Inhalt des Schreibens war ein sorgfältig begründetes Zeichen der Versöhnung an uns Deutsche, treu der Mahnung des böhmischen Bischofs Comenius folgend: »Mit der Verbesserung muß jeder bei sich selbst anfangen.« So nannte Havel die Untaten der eigenen böhmischen Seite beim Namen, wie es zuvor keiner getan hatte. Er schrieb mir: »Ich persönlich - ebenso wie viele meiner Freunde - verurteile die Vertreibung der Deutschen nach dem Krieg. Sie erschien mir immer als eine zutiefst unmoralische Tat, die nicht nur den Deutschen, sondern vielleicht in noch größerem Maße den Tschechen selbst Schaden zugefügt hat.«
    Dann überstürzten sich die Ereignisse in Prag. Hatte es anfangs gestockt, gewann nun die friedliche Revolution beinahe über Nacht die Oberhand. Vier Monate nach seinem Brief zum Friedenspreis, am 1. Januar 1990, wurde Václav Havel Präsident der ČSSR. So freudig begann für uns in Europa dieses Jahr mit seinen großen Umwälzungen.
    Wenige Tage vor seinem Amtsantritt rief Havel bei mir an, um seine Absicht zu einem Besuch in Deutschland anzukündigen. Und buchstäblich am vierten Tage seiner Präsidentschaft machte er sich auf die Reise, vormittags nach Ostberlin zu den damaligen Spitzen in der DDR, nachmittags nach München, um mich dort während eines oberbayerischen Neujahrsaufenthaltes zu besuchen. Man stelle sich die Wirkung bei uns und vor allem in seiner eigenen Heimat vor. In München war 1938 das berüchtigte Abkommen gegen Prag erzwungen worden. In Berlin hatte Hitler im Frühjahr 1939 den tschechoslowakischen Präsidenten Hácha gedemütigt. Und nun eben dorthin tat der neue Staatschef seine allerersten Schritte außer Landes.
    Auf dem Rollfeld des Münchener Flugplatzes holte ich Havel ab. Er entstieg einer Militärmaschine. Ein tschechischer Oberstleutnant salutierte. Als Havel ein paar Schritte vorausgegangen war, zeigte der Offizier auf ihn und sagte so, daß ich es hören mußte und wohl auch sollte: »Da geht unser neuer Oberbefehlshaber, der Soldat Schwejk.« Es ist doch ein begnadet begabtes Volk!

    Mit Václav Havel verband mich sehr bald eine persönliche Freundschaft wie mit keinem anderen Kollegen. »In der Wahrheit leben«, so lautete eine Publikation dieses stets von seinem Gewissen geleiteten Denkers, des Autors wie des Politikers. Nur selten entspricht die Welt seinen Visionen, und doch weiß sie, was sie an ihm hat.

    Havel traf sich im Münchener Prinz-Carl-Palais auch mit Kohl und dem bayerischen Ministerpräsidenten Streibl. Es war eine schwer beschreibbare Versammlung grundverschiedener Persönlichkeiten in einer gelösten und hoffnungsvollen Atmosphäre.
    Sehr bald darauf erreichte mich der nächste Anruf aus Prag. Am 15. März 1939 sei Hitler mit

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