Vier Zeiten - Erinnerungen
Staaten ging ebenso zu Ende wie die Außensteuerung durch globale Supermächte. Erstmals hatten die Völker unseres Kontinents die Chance, aus eigener Kraft zu einer gemeinsamen Lebens- und Friedensordnung zusammenzuwachsen. Würden sie den Willen und die Macht dazu finden? Würden sie sie nutzen, ihren Einfluß zu stärken und ihr Potential einzusetzen für die eigene Stellung in der Welt, aber auch gegen die Überbevölkerung und den Hunger, gegen die Umweltzerstörung und die geistige Leere?
Die deutsche Führung hatte den Kairos für die Vereinigung des eigenen Landes erkannt. Angespannt durch den Zeitdruck hatte sie die Stunde mit Energie und Erfolg genutzt. Für Europa waren wir offener als je zuvor. Um ein brauchbarer Partner zu sein, mußten wir aber die Hausaufgaben der Vereinigung lösen. Und so ging es an die Arbeit um die innere Einheit. Sie vollzog sich im Zeichen eines kaum geringeren Wirbelwindes.
Noch existierte die DDR, aber die große Mehrheit ihrer Bürger drängte mit Macht auf Vereinigung. Die Freiheit der Information und der Reise war gewonnen. Das Ziel war jetzt die Lebenswirklichkeit der Einheit. Wie würde sie aussehen, wirtschaftlich und sozial, gesellschaftlich und menschlich?
Willy Brandt hatte die Lage auf den Begriff gebracht: »Nun wächst zusammen, was zusammengehört.« Mitte Dezember 1989 sagte ich daraufhin im DDR-Fernsehen: »Wir sind eine Nation, und was zusammengehört, wird zusammenwachsen. Aber es muß eben zusammenwachsen. Es darf nicht der Versuch gemacht werden, daß es zusammenwuchert. Wir brauchen die Zeit.«
Früher oder später brauchen wir die Zeit. Sie läßt sich nicht überlisten. Zusammenwachsen vollzieht sich in einer tieferen menschlichen Schicht. Wuchern heißt, ungesund wachsen statt organisch. Mit dem, was ungesund war, ringen wir noch bis heute. Es war mir ja nicht um Kritik am beherzten Zugriff in der internationalen Welt gegangen, der notwendig und richtig war, sondern um die innere Stimmung in der DDR und vor allem um die gegenseitige Wahrnehmung der Menschen zwischen Ost und West. Brandt hat es mir später zweimal ausdrücklich bestätigt, daß er verstehe und akzeptiere, wovon ich gesprochen hätte. Aber sein Instinkt hatte ihn nicht getrogen. Wir hatten sie nicht, die Zeit, die wir brauchen. Niemand konnte ihren Ablauf aufhalten.
Zum Besten gehörte die baldige demokratische Wahl einer freien Volkskammer in der DDR. Während der folgenden Monate hatten ihre Mitglieder praktisch ohne Vorbereitung an den schwierigsten Problemen zu arbeiten und Entscheidungen von unerhörter Tragweite zu treffen. Gelegentlich wurden sie als Laienspieler bezeichnet. Wollte damit jemand eine Geringschätzung ausdrücken? Mit einer Hingabe ohnegleichen rangen sie um Lösungen. Ihr Mangel an professioneller Parlamentsroutine gehörte gerade deshalb zu ihren Vorzügen, weil sie sich gegenseitig nicht festnagelten. Sie zeigten, wie wertvoll es ist, »von anderen nicht ständig das Schlimmste zu erwarten oder gar zu erhoffen, damit das eigene Weltbild stimmt« (Richard Schröder). Jeder durfte und mußte offen sein und dazulernen. Wo Laien den Berufspolitikern so das Wasser reichen, ist es kein schlechtes Omen für die Demokratie. Die kurze Arbeitszeit der frei gewählten Volkskammer in der DDR gehört zu den besten Kapiteln in der deutschen Parlamentsgeschichte.
Bisher hatte die direkte Demokratie die Richtung und das Tempo bestimmt. Nun verwandelte sie sich rasch in ein repräsentatives System nach westlichem Muster. Ihre vier Worte »Wir sind das Volk« wuchsen zu vielen Tausenden von Worten in
immer neuen Vereinbarungen und Verordnungen. Mit einer unerhörten Arbeitsleistung von Politikern und Beamten entstanden unter der Hauptverantwortung von Wolfgang Schäuble und Lothar de Maizière die Eckdaten der Vereinigung. Im Mai 1990 kam die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zustande. Am 1. Juli wurden in der DDR die persönlichen Guthaben nach gestaffelten Höchstgrenzen ebenso wie alle wiederkehrenden Zahlungen im Verhältnis 1:1 umgestellt. Die Treuhandanstalt entstand. Die Volkskammer erklärte den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes. Am 31. August wurde der Einigungsvertrag im Ostberliner Kronprinzenpalais unterzeichnet.
In der Nacht vom 2. zum 3. Oktober 1990 waren wir vor dem Reichstag in Berlin versammelt. In Anlehnung an die Präambel der Verfassung gab ich vor der unübersehbaren Menschenmenge um Punkt Mitternacht der gemeinsamen Aufgabe
Weitere Kostenlose Bücher